© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
Wachsam bleiben
von Siegmar Faust

Wie lange kann eine pluralistische Demokratie ihre Ausgewogenheit erhalten, die ihren Bewohnern größtmögliche Freiheiten gestattet, wenn nur noch 19 Prozent der Bevölkerung der früheren DDR Freiheit für etwas Elementares halten? Zwei Drittel erinnern sich im Jahr 1997 mit verklärtem Blick ihrer DDR und meinen: "Eigentlich war es eine schöne Zeit." Die Grundsätze, auf denen Deutschlands zweite Diktatur basierte, hält man überwiegend für richtig; die Idee des Sozialismus, die man, wie in der Schule gelernt, weiterhin als gut empfindet, sei nur schlecht ausgeführt worden. Zu der Parallelität zu Umfragen der Nachkriegszeit in Westdeutschland, die aus dem Wissen um die weitere Entwicklung heraus beruhigen könnte, kommt jedoch heute eine beunruhigende Komponente hinzu: "Überholt geglaubte Klassenkampfkonzepte", so Frau Noelle-Neumann vom Allensbacher Demoskopie-Institut, "haben auch in Westdeutschland noch nie beobachtete Anhängerzahlen." Außerdem verschiebe sich ihrer Beobachtung nach das Meinugsspektrum stetig nach links, und zwar im Osten wie im Westen.

Der Justizminister des Freistaates Sachsen, Steffen Heitmann, definierte in seinem Buch "Die Revolution in der Spur des Rechts" das scheinbar unausrottbare Links-rechts-Schema für unsere Gegenwart in einem plausiblen Sinn: Linke haben demnach ein Menschenbild, das sie mehr an die Erziehbarkeit des Menschen sowie die Veränderbarkeit der Welt glauben läßt, da sie diese auch für erkennbar halten. Deshalb stellen sie vorhandene Strukturen und Institutionen mehr in Frage und ziehen, im Gegensatz zu Konservativen, den Egalitätsgrundsatz der Freiheit vor. Ein Rechter legt ihn hingegen nicht als Gleichheit der Besitzverhältnisse aus, sondern als Gleichheit vor dem Gesetz. Und zuguterletzt meldet ein rechtes Weltverständnis dem Fortschrittsgedanken der Linken gegenüber größere Skepsis an und neigt dazu, "nüchtern auch das eingeborene Böse im Menschen in Rechnung zu stellen".

Ein rechter Demokrat weiß, daß der Mensch als solcher, gar noch als jener in der Masse, schwer belehrbar ist. Wandlung kommt einer Neugeburt gleich, der eine Über-Zeugung vorausgegangen sein muß. Echte Wandlungen, vor allem in einem kurzen Zeitrahmen, bleiben also ein seltenes und kostbares Ereignis. Ein solches scheint dem ehemaligen Chefredakteur des Neuen Deutschland widerfahren sein, der zu Beginn der achtziger Jahre zum Politbüro-Mitglied aufgestiegen war. Günter Schabowski soll nach Auffassung einiger Bürgerrechtler der einzige aus dem Politbüro sein, der bisher Reue gezeigt habe und sich nicht in "Nibelungentreue zu alten Irrtümern" (Vera Lengsfeld) gefalle. "Schonungslos bis zur Selbstverachtung" wie ein Thüringer Redakteur schrieb, stellte sich Schabowski bisher sowohl der kritischen Öffentlichkeit als auch seinem Richter, der ihn neben dem "Betonkopf" Egon Krenz in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren wegen Beihilfe an den tödlichen Schüssen auf Flüchtlinge an der Berliner Mauer verurteilte. Von "Betonköpfen" und "Wendehälsen" wie Markus Wolf ist außer Lüge, Rechtfertigung und verwirrendem Ablenkungsmanöver nichts an Aufklärung des SED-Unrechtssystem zu erwarten. Günter Schabowski hingegen kann heute mit Begeisterung von seiner geistigen Befreiung berichten. Es löste einen Schock in ihm aus, als die sich erneuern wollende SED/PDS ihn ausschloß; doch dieser Schock war heilsam. Heute bedankt er sich beinahe überschwenglich bei der Partei: "1990 wurde ich frei, danke daß ich frei bin!" Unmittelbar danach habe er sich eine "unbarmherzige Aufklärung", eine große öffentliche Auseinandersetzung in Form von Tribunalen "über das mit ihm selber soeben abgetretene Regime gewünscht; doch die, so resümiert er bitter, habe nie stattgefunden, schon gar nicht in der SED. Statt dessen etablierte sich die Nachfolgepartei PDS wieder, nur etwas raffinierter, warnt er, mit ihrer "untauglichen und abgewirtschafteten Ideologie".

Nach Revolutionen soll es immer Restauration gegeben haben, kann man sich trösten. Doch kein Trost wird es vielen sein, daß es kein Allheilmittel gegen die massenhafte Uneinsichtigkeit, gegen die "Drogensucht" der Utopisten gibt. Das bedeutet allerdings keinen Freibrief, es nicht wenigstens zu versuchen, der Dummheit die Stirn, der Frechheit die Wange und der Brutalität das bürgerliche Strafgesetzbuch entgegen zu halten. Man darf nur keine zu hohen Erwartungen hegen, um weder von sich noch von der Welt enttäuscht zu werden, obwohl andererseits ein Quantum Enttäuschung nötig ist, denn nur der Enttäuschte, der sich nicht mehr täuschen läßt, kann sich und dann erst die Welt annehmen: als Realist.

Erlebte Schmach und Erniedrigung und kaum verheilte Wunden erlittenen Leids treiben manche ehemalige politische Häftlinge in nie erlöschenden Haß, der sie vor allem selber und die menschlichen Beziehungen vergiftet. Sattsam bekannte Unversöhnlichkeit gegenüber sogenannten Klassenfeinden oder "minderwertigen Rassen" bahnt letzten Endes neue Katastrophen an, die nur "Pyrrhus-Sieger" oder Verluste auf allen Seiten hinterlassen, falls von Hinterlassenschaft überhaupt die Rede sein kann.

Wer wüßte nicht, wie anstrengend, fast übermenschlich schwierig es oft ist, in dem sinnverwirrenden Gefüge aus Lust und Last, aus Angst und Hoffnung oder Begierde und Verachtung immer die Würde zu wahren oder am Sinn des Lebens nicht zu verzweifeln. Wer jedoch einem ehemaligen Peiniger, der sich – wann und unter welchen Umständen auch immer – reuevoll vor seinen Opfern verneigt, nicht verzeihen kann, war selber nie würdevoll oder hat durch Leid-Erfahrung seine Würde verloren.

Der moderne, zugleich durchaus gebildete Massenmensch, der Souverän in der Demokratie, ist ein typischer Mitläufer, ein Zeitgeistsurfer. Das Sturmtief ohne Sturm und Tiefe am Ende unseres Jahrhunderts läßt viele kaum noch den eigenen Lebensrhythmus finden, geschweige denn Zeit zum Nachdenken. Die meisten wollen nur wissen, woher der Wind weht, damit sie ihre Mäntelchen dementsprechend hängen können. Mit vollem Segel durch die Schaumkronen – das macht Spaß! Aufklärer hingegen kämpfen gegen Windmühlen, was frustriert, wenn sie keinen Aufwind bekommen.

Im Windschatten tummeln sich die Dunkelmänner von der "unsichtbaren Front". Ehemalige Stasi-Offiziere, die an der Hochschule des MfS in Potsdam rudelweise, oder um in der sozialistischen Terminologie zu sprechen: im Kollektiv "promovieren" konnten, was an fast keiner westdeutschen Schule einem Fachabschluß entsprochen hätte, dürfen nun in unserer windigen oder "offenen Gesellschaft" (Karl Popper), die sie einst verhöhnt, diffamiert und bis aufs Messer bekämpft haben, stolz ihre Doktortitel weitertragen.

Doch zum Glück kann es in dieser geöffneten Gesellschaft und zugigen Zeit keiner mehr verhindern, daß Institutionen, manchmal vereinzelte Personen, sich der unangenehmen Aufgabe hingeben, im Schmutz der Vergangenheit zu wühlen. In den Archiven untergegangener Staaten wird nicht leichtferig Staub aufgewirbelt, sondern es werden charakteristische Fundstücke an die Öffentlichkeit gebracht, die jeglicher Nostalgie, so würden Gesetze der Logik es vorschreiben, entgegenwirken müßten. Aber so wenig das Leben einzelner nach menschlicher Logik verläuft, so auch das ganzer Völker nicht. Dennoch gibt es Erfahrungen, die Weisheitslehrer wie Konfuzius ihren Schülern hinterließen: "Geht ein Staat den rechten Weg und herrscht Ordnung darin, so ist es beschämend, wenn man arm und von geringem Ansehen ist. Geht es hingegen in einem Staat nicht rechtens zu, dann ist es eine Schande, reich und angesehen zu sein."

Marxisten stellten nicht nur Hegel angeblich vom Kopf auf die Füße, sondern verdrehten mit Gewalt und Ignoranz alles Bürgerliche in sein Gegenteil. Die Grundhaltung machthabender Kommunisten hat sich ganz selten und fast nirgendwo geändert, auch wenn ihre Ausdrucksweisen, Umgangsformen, Foltermethoden gegenüber politischen Gefangenen subtiler, effizienter, also raffinierter, keinesfalls jedoch humaner wurden. Die Ausfälle des ehemaligen Leipziger Bezirkssekretärs der SED, Paul Fröhlich, in einem Diskussionsbeitrag von 1956 reizen heute fast zum Lachen, obwohl die Diktion auch von Hitler stammen könnte: "Fäulniserregender Intellektualismus, … diese stinkende Ideologie ist ein Versuch, die Partei zu zersezen. Aber wir sehen, daß … sich dieser Sumpf bürgerlicher Ideologien, man kann von einer ideologischen Verrottung sprechen, eine Halunkenideologie breitmacht … Mit Stumpf und Stiel ausrotten!"

Derartige "Krawall-Kommunisten" hatten die Macht; sie bestimmten, wer in ihrem System studieren durfte; sie zogen jene Intelligenzia heran, die, devot und feige, nicht nur den wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR, sondern auch den geistig-moralischen Niedergang und die ständige Fluchtbewegung sich nicht domestizieren lassen wollender Talente und Charaktere zu verantworten hätte. Doch keiner wird dafür heute zur Verantwortung gezogen, nicht einmal Rechenschaft brauchen sie abzulegen. Zugegeben, die wenigsten konnten oder besser: wollten wissen, was mit jenen geschah, die man als "negativ-feindliche Personen", als "unzuverlässige Elemente" oder als "Andersdenkende" in den sozialistischen "Menschenveredlungsanstalten" (Sieghard Pohl), also in den zumeist überbelegten Zuchthäusern quälte, doch sie haben mit ihren belastenden Aussagen, durch das Verbreiten kriminalisierender Gerüchte, ob bewußt oder unbewußt, ob auf der MfS- oder der Parteischiene oder als normale Hausbewohner, Kollegen, Kulturbundmitglieder am Wegsperren mitgewirkt oder das Verschwinden von Freunden und Mitmenschen geduldet, ohne nachzufragen, geschweige denn zu protestieren. Nur wenige mutige Freunde oder Verwandte sind den SED-Funktionären, der Staatsanwaltschaft oder gar der gefürchteten Stasi mit bohrenden Fragen auf die Nerven gegangen.

Der erstickende beißende Qualm der DDR kam nicht nur aus den Schloten verrotteter Industrieanlagen, sondern aus allen Knopflöchern miefte Scheinheiligkeit, dümmliche Machtarroganz und parteilich geschulte Inkompetenz. Die Einheitsideologie; der gleiche Bohnerwachsgeruch in allen öffentlichen Häusern; an allen Schulen dieselben Lehrpläne mit militaristischen Übungen vom Kindergarten an; die Ohnmacht der meisten vor der Allmacht der Kellner und Hilfspolizisten; das Schlangestehen vor den Geschäften des täglichen Bedarfs; das Lügen und Betrügen beim Abrechnen der Pläne vor der Jahresendprämie; das abendliche Glotzen in die Westkanäle; das Zwei-Minuten-Abfertigen in den Polikliniken durch überlastete Ärzte; das sich Damitabfinden, daß man die Schwimmhallen gefälligst den Doping-Sportlern zu überlassen habe; die Fahnen-Appelle in den Schulen und Ferienlagern; die stinkenden, knatternden Autos; die "Arbeiterintensivhaltung" in den Neubaugebieten; das Nichtaufklären von Gewaltverbrechen russischer Besatzer; das Wegsprengen kulturhistorisch wertvoller Gebäude, das Zerfallenlassen ganzer Altstadtkerne; die Verkommenheit der Infrastruktur; der eigenartige Geschmack des Trinkwassers; die Wartezeiten auf Telefonanschlüsse; die zum Himmel stinkende Umweltverpestung … es wären noch tausende Dinge und Zustände aufzuzählen, nach denen sich viele, allzu viele zurücksehen, denn "eigentlich war es ja eine schöne Zeit".

So sprachen die meisten Menschen nach dem Krieg auch. Hitler schaffte die Arbeitslosigkeit ab, baute Autobahnen, und Kriminalität soll es fast keine gegeben haben, wie in der DDR, wo sie zumindest nicht in den Einheitszeitungen breitgetreten wurde. Arbeitslosigkeit gab es rein statistisch ebenfalls keine, und der Staat baute so viele Kinderkrippen, daß sich die Mütter ganz dem sozialistischen Aufbau widmen durften.

Nach einer überwundenen Katastrophe empfindet keiner sie als solche, im Gegenteil, sie scheint die heilste aller Welten gewesen zu sein. Die beiden Unrechtssysteme dieses Jahrhunderts weisen viel mehr Gemeinsamkeiten auf, als sich die Davongekommenen oder jene mit der Gnade der späten Geburt eingestehe wollen. Mit Singularitätspostulaten wird sich die gründliche Erforschung der beiden totalitären Systeme nicht mehr aufhalten lassen.

Stalins Grundsatz "Die Kader entscheiden alles!" galt in der DDR bis zum letzten Tag ihrer Existenz. Auf der "Kaderkonferenz der SED-Bezirksleitung Dresden" wurde unter Verantwortung des angeblichen "Reformers" Hans Modrow noch am 23. Mai 1989 trotzig der Schluß- und Schlüsselsatz des
Hauptreferats in den Saal gebrüllt: "Es bleibt dabei: Kader entscheiden alles!" Wann also will sich die SED jemals von den Grundlagen des Stalinismus befreit haben?

Immer dann, wenn einem die Galle hochkommen will, sollte man sich noch tiefer in die Vergangenheit beugen, um das Gegenwärtige ertragen zu können. Die verschiedene Rezeption und Akzentuierung von Wirklichkeit ist uralt und wird wohl immer so verschieden bleiben. "Und deshalb", so Steffen Heitmann in seiner Dankesrede bei der Entgegennahme des "Freiheitspreises" in München 1995, "wird es Rechts und Links als geistig-politisches Orientierungsschema auch weiter geben, ja, es muß es geben, wenn die Freiheit der geistigen Auseinandersetzung in unserer Gesellschaft bewahrt werden soll." Geistige Auseinandersetzung erfordert Aufrichtigkeit, doch diese wiederum ist massenhaft nur dort möglich, wo sich die Gesellschaft in einer ausgewogenen Situation befindet. Ist das "Gesellschaftsschiff" linkslastig, muß sich der Einzelne, der eine aufrechte Haltung wahren will, nach rechts gegen den linken Zeitgeist stemmen.


 
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