© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/98  06. November 1998

 
 
Politik mit dem Einkaufswagen: Die Macht von "Otto Normalverbraucher"
Ein ungewöhnlicher Spendenbrief
Volker Kempf

Wo die offizielle Politik versagt, tritt die Weltöffentlichkeit mit dem Einkaufswagen als politischer Akteur auf die Bühne. Die Erfolge sind – wie im Falle des von Greenpeace initiierten Boykotts von Shell-Tankstellen – durchschlagend. Damit dies so bleibt und Greenpeace die selbstgesteckten Aufgaben weiterhin verfolgen kann, flatterte im Oktober hunderttausendfach "der ungewöhnlichste Spendenbrief" in die Briefkästen.

Doch der Reihe nach: Wir sollten 1995 die Cola-Dose nicht aus dem Auto werfen, während die großen Sündiger eine ganze Bohrinsel legal im Meer versenken durften. Skandal! Und so bezogen die Autofahrer gegen Shell Position und tankten nur noch bei Aral, Esso oder BP. Daß das keine nachhaltige Entlastung für das Gewissen des umweltsündigen Autofahrers bedeuten kann, ist klar. Doch dagegen gibt es Abhilfe. Greenpeace, die zeitgemäße katholische Kirche von heute, belebt einen alten Brauch: den Ablaßhandel. Gegen das gesunde und damit schlechte Gewissen des Autofahrers verteilt der Öko-Vatikan Aufkleber. Den darf sich jeder Autofahrer auf die Heckscheibe kleben, der eine dem eigenen schlechten Gewissen angemesene Summe spendet. Doch "Achtung", schummeln gilt nicht, heißt es sinngemäß auf dem Begleitschreiben rot unterstrichen: "Den beiligenden Greenpeace Aufkleber erst nach Zahlung Ihres Förderbeitrags bzw. Spende verwenden!" Prima Sache: Die Autofahrer fahren weiter Auto und tun – zumindest finanziell – etwas für die allein seeligmachende Öko-Kirche.

Die Autofahrer erzeugen weiterhin Lärm und Abgase und das auch noch mit gutem Gewissen, lautet die Kritik. Das Ziel, ein Verbot der Entsorgung von Ölplattformen im Meer zu erwirken, wurde just in diesem Jahr definitiv erreicht, lautet die Rechtfertigung.

Wie immer man die Boykottmaßnahmen gegen Shell-Tankstellen bewerten mag: Die Politik mit dem Einkaufswagen – hier dem motorisierten – war erfolgreich. Was sich nationale Regierungen nicht erlauben, nämlich den Aufstand gegen einflußreiche Großkonzerne zu proben, dazu entschließen sich die Verbraucher kurzerhand. Dabei schien aus Sicht des Shell-Konzerns alles so sicher: Die Regierungen parierten, die Autofahrer tankten fleißig Benzin und die Gesetze standen einer Entsorgung der "Brent Spar" nicht im Wege. Doch der Öl-Multi hatte die Rechnung ohne die Weltöffentlichkeit gemacht. Über nationale Grenzen hinweg springen die Verbraucher flugs in das Macht- und Legitimitätsvakuum, das das "Kartell" aus Industrie, Recht, Wirtschaft und beschwichtigender Politiker hinterläßt.

Dieses Vakuum ist es, was den Aufstand der Massen so attraktiv macht. Ob Monsanto-Gen-Food oder Thunfische, zu deren Fang Delphine qualvoll verenden: Der wunde Punkt der organisierten Unverantwortlichkeit ist der Verbraucher, der nicht alles mitmachen und nicht alles schlucken will. Eine Firma wird medienwirksam an den Pranger gestellt und die Verbraucher boykottieren das entsprechende Produkt. Firmen wissen, wie kurz der Abstand zwischen Verkaufserfolg und Boykott sein kann. So ist für die Unternehmensgruppe Henkel eine "freiwillige" Teilnahme am Öko-Audit-Verfahren unentbehrlich. Schließlich achten die Kunden gerade im Waschmittelbereich darauf, welche Chemie in die Einkaufstaschen kommt oder ob ein Produkt in Erinnerung an die treuen Augen verendender Seehunde verschmäht wird.

Die Politik mit dem Einkaufswagen ("Subpolitik") ist ein wichtiger Machtfaktor. Subpolitisch wurden einige Schritte für eine ökologischere oder tierfreundlichere Produktionsweise herbeigeführt. Doch nicht selten ist, wie es Greenpeace mit seinem Spendenaufruf alljährlich vorführt, auch viel Heuchelei im Spiel. Damit steht Greenpeace nicht alleine da. Auch im Parteipolitischen gilt: Gewählt werden die Bündnisgrünen nicht selten deshalb, weil sich ihre Wählerinnen und Wähler im Glauben wiegen wollen, etwas für die geschundene Umwelt zu tun. Nur ändern soll sich möglichst nichts. Selbst etwas abzugeben, für bessere Lebensmittel einen ethischen Preis zu bezahlen, Reisegewohnheiten oder allgemein das Verhalten gegenüber der Umwelt zu ändern, kommt nicht in Frage. Der organisierten Unverantwortlichkeit steht deshalb die organisierte Heuchelei gegenüber.


 
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