© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/98  06. November 1998

 
 
Herbstgutachten: Die Lage der deutschen und der Weltwirtschaft
Ins Straucheln geraten
Ronald Gläser

Was die Oscar-Nominierungen für Filmproduzenten und Schauspieler, das ist die Veröffentlichung der Herbstgutachten über die nationale und globale Wirtschaftslage für Politiker, Wirtschaftsmagnaten und Investoren. Die Prognosen der Wirtschaftsforscher geben Anlaß zu gedämpftem Optimismus – trotz rot-grüner Wirtschaftspolitik, trotz Asien- und trotz Rußlandkrise.

Für das kommende Jahr wird in Deutschland eine Zunahme des Bruttoinlandsprodukts, die Summe aller erstellten Waren und Dienstleistungen, von 2,3 Prozent nach 2,7 Prozent in diesem Jahr prognostiziert. Dieser geringere Zuwachs ist aufgrund der Asien- und Rußlandkrise denn auch vor allem auf eine moderat steigende Binnennachfrage zurückzuführen. Dagegen werden Exporte in die betroffenen Regionen deutlich zurückgehen. Vom Rückgang am stärksten betroffen scheint Indonesien, dessen Wirtschaft in diesem Jahr 15 Prozent und 1999 um weitere fünf Prozent schrumpfen wird. Auch Thailand, Hongkong, Malaysia und Südkorea haben das Tal in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung noch längst nicht erreicht. Dementsprechend sehen die Wirtschaftswissenschaftler einen Rückgang des Anteils von Exporten nach Asien am Gesamtexport auf rund sieben Prozent. Zum Vergleich: Mitte der 90er Jahre gingen noch annähernd zehn Prozent der deutschen Exporte in die Tigerstaaten. Durch die Abwertung der betroffenen Währungen steigen allerdings nunmehr auch die Exporte dieser Staaten, was mittelfristig zur Überwindung der Krise führen dürfte.

Dagegen steigt der Anteil der Exporte aus Deutschland in den NAFTA-Raum (USA, Kanada, Mexiko) nachhaltig. Da hier die wirtschaftliche Entwicklung noch expansiver ist als in Europa, ist das alles andere als erstaunlich. Amerikas Wirtschaft steht blendend da: Anhaltendes Wirtschaftswachstum, eine Arbeitslosenrate unterhalb von fünf Prozent und erstmals seit 30 Jahren ein Haushaltsüberschuß, der nach einem republikanischen Wahlsieg bei den Kongreßwahlen vermutlich in Steuersenkungen umgemünzt wird, was die Binnenkonjunktur der USA und die Aktienkurse weiter stärken dürfte.

Ein weniger positives Zeugnis stellen die sechs führenden deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinsitute dem Reich der aufgehenden Sonne aus. Japan durchschreitet zur Zeit ebenfalls ein Tal der Tränen, und die Regierung versucht, mit sozialistischen Werkzeugen die Wirtschaft wiederzubeleben. Diese schrumpft um 2,8 Prozent und wird sich im nächsten Jahr nur wenig erholen können: "Eine nachhaltige Erholung ist freilich nicht in Sicht." Gegenüber der Bankenkrise am Kabutocho helfen auch kurzfristige Stimulierungen der Inlandsnachfrage nicht. Selbst der extrem-keynsianische Plan der japanischen Regierung, allen Bürgern einen Warengutschein im Wert von etwa 350 Mark zu schenken, dürfte langfristig kaum ausreichen, um Anlauf zu neuen Höhen nehmen zu können. Immerhin: Der Yen hat seine Talfahrt zunächst beendet. Und die japanische Regierung hat den einzig richtigen Schritt zur Lösung der Finanzkrise unternommen. Sie hat eine der betroffenen Banken, die Longterm Credit Bank, de fakto verstaatlicht.

Auch Rußlands Situation wird negativ beurteilt: "In Rußland zeichnen sich bisher Lösungen für die schwere Krise nicht ab." Es beständen "erhebliche Unsicherheiten". Der russische Aktienindex RTX, der um rund 90 Prozent geschrumpft ist, spiegelt diese Einschätzung nachhaltig wider.

Und noch ein möglicher Krisenherd, von dem neue Währungsturbulenzen ausgehen könnten: Lateinamerika, insbesondere Brasilien. Der Real, die brasilianische Währung, ist erheblich unter Druck geraten. Auch Venezuela und Mexiko könnten ins Straucheln geraten. So ist der Absatz ausländischer Fahrzeuge in Brasilien um 45 Prozent geschrumpft. Ein Rückgang, der vor allem Volkswagen betrifft. Aber gerade dieses Beispiel verdeutlicht, daß die Krisen in diversen Schwellenländern erfolgreich global agierenden Konzernen wie VW nicht allzuviel anhaben können: Die Wolfsburger Aktiengesellschaft konnte in den ersten neun Monaten ihren Vorsteuergewinn um sagenhafte 76 Prozent steigern. Und das Unternehmen kann die Nachfrage nach dem neuen Käfer weder hier noch in Übersee befriedigen.

Zu den guten Nachrichten: Die Zinsen sind in den wichtigen Industrieländern niedriger denn je. Da keine Inflationsgefahr in Sichtweite ist, besteht wohl für die Notenbanken derzeit auch kein Grund, diese zu erhöhen. Übereinstimmend sehen Wirtschaftswissenschaftler noch Spielraum für Senkungen. Das unterstützt zukünftige Investitionen ebenso wie die dauerhaft niedrigen Rohstoff- und Rohölpreise.

Die Aussichten für den Arbeitsmarkt sind in Deutschland allerdings so trübe wie in den Jahren zuvor. Die neue Regierung mag sich damit trösten, daß immerhin 15 Prozent der Unternehmen in Deutschland Neueinstellungen planen. Belastend könnte sich auswirken, daß sich die Gewerkschaften durch das Ergebnis der Wahl gestärkt fühlen. Unlängst kündigte IG-Metall-Chef Zwickel an, daß jetzt "das Ende der Bescheidenheit" bei Tarifverhandlungen erreicht sei.

85 Prozent der Führungskräfte der Wirtschaft sind einer emnid-Umfrage zufolge pessimistisch gegenüber der Wirtschaftspolitik der "Neuen Mitte" eingestellt. Statt Stollmann nun Müller. Das hat Symbolcharakter: Ein innovativer Softwarehersteller, ein Seiteneinsteiger wird ausgetauscht gegen einen Konzernmanager, der seit Jahren zu den Beratern Schröders gehört. Der DIHT hat denn auch die neue Wirtschaftspolitik Schröders kritisiert. Die Steuerreform enthalte per Saldo Steuererhöhungen. Allzu groß fällt die Entlastung von Personen und Unternehmen ja nicht aus. Wobei man gerechterweise sagen muß, daß auch die Steuerpläne der alten Koalition nicht viel umfangreicher waren.


 
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