© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/98  13. November 1998

 
 
Kolumne
Kluge Mutter
von Will Tremper

Der Bundespräsident sprach letzten Sonntagvormittag anläßlich des 60. Jahrestages der sogenannten Reichskristallnacht in der Synagoge Rykestraße zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Pogroms vom 9. November 1938. Nachmittags versammelten sich einige hundert Menschen auf dem Wittenbergplatz zu einem Schweigemarsch ins Jüdische Gemeindehaus in der Fasanenstraße. Passanten blieben stehen und senkten betreten ihre Köpfe. Doch was hatte dieser Schweigemarsch zu bedeuten?

Meine ehemalige Schwiegermutter hätte Bescheid gewußt. Die gute Frau Hoffnung (welch schöner Name) war schon in den 50er Jahren strikt dagegen, der "Reichskristallnacht" öffentlich zu gedenken – und Frau Hoffnung saß im Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Zu leicht, befand sie, könnten alte Nazis auf die Idee kommen, nach dem Auslöser dieses Pogroms zu fragen, nach einem jungen polnischen Juden namens Grünspan. Inzwischen freilich sind 60 Jahre vergangen, und die ums Vergessen besorgten Berliner Juden haben längst vergessen, wie es zu dem Pogrom von damals kam – oder wollen nicht an den Anlaß erinnert werden. An Herschel Grünspan aus Polen.

Das war ein junger Mann, der mit seinen Eltern, wie übrigens auch der bekannte Marcel Reich-Ranicki, gleich nach Hitlers Machtübernahme 1933 von den Nazis gezwungen worden war, dorthin zurückzukehren, von wo die Grünspans gekommen waren: nach Polen. Eine vergleichsweise harmlose Bewältigung des "Juden-Problems", doch dem jungen Grünspan brach das Herz, als er sich von seiner liebgewordenen Berliner Umgebung trennen mußte. Er fuhr nach Paris, drang in die deutsche Botschaft ein und erschoß demonstrativ den Botschaftsrat von Rath.

Es war der Funke, der die unheilgeschwängerte Atmosphäre in Deutschland zur Explosion brachte. Das Pogrom des 9. November 1938 begann. Aber nicht allen führenden Nazis waren die Ausschreitungen der SA, die Plünderung jüdischer Geschäfte, die Zerstörung der Synagogen recht. Propagandaminister Goebbels zum Beispiel rief wütend seinen Führer in München an und beschwerte sich über Göring, den er nicht zu Unrecht für den Initiator des Pogroms hielt. Goebbels fürchtete die Reaktions des Auslands. Aber Hitler gab Göring recht: "Wenn es dazu kommt, daß jeder Judenlümmel einfach einen deutschen Diplomaten erschießen kann …"

Das war der Grund dafür, daß meine Schwiegermutter diesen 9. November 1938 am liebsten totgeschwiegen hätte. "Das fällt doch immer wieder auf die Juden zurück", klagte sie, denn das Pogrom hatte mit dem Attentat Herschel Grünspans begonnen. Meine Schwiegermutter wäre gar nicht auf die Idee gekommen, daß man sich auch an dieses Pogrom erinnern könnte, ohne Grünspan, den Auslöser, überhaupt zu erwähnen. In meiner Zeitung, der Welt am Sonntag, in der ich seit dreißig Jahren schreibe (und die Axel Springers Lieblingsblatt war) hat’s am 8. November gestanden. Oder haben Sie in einer anderen Zeitung etwas über den vorangegangenen Diplomatenmord gelesen?


 
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