© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
Konsequenz der Kultur
von Baal Müller

In der Bonner Republik beginnt noch jedes Gespräch über den Konservatismus mit Definitionsversuchen, und diese Versuche werden in ritualisierter Form, alle Jahre wieder, als Zeitschriftenumfrage, Symposium, Sammelband u.ä. organisiert" (Günter Maschke). Die unter den Konservativen im Gegensatz zu ihren Gegnern weitverbreitete Unsicherheit darüber, was eigentlich konservativ sei oder noch sein könne, ist nicht nur für die Bundesrepublik symptomatisch. Sie kennzeichnet vielmehr die konservative Befindlichkeit seit jener Zeit, in der – in den Augen des Konservativen – das Bestehende und das Erhaltenswerte zunehmend auseinandertraten, also seit Beginn des modernen Revolutionszeitalters mit seinen permanenten Veränderungsschüben. Seitdem ist konservativ zu sein keine selbstverständliche Loyalität mehr gegenüber einer Obrigkeit "von Gottes Gnaden", und auch nicht mehr nur im Sinne von Gerd-Klaus Kaltenbrunner eine Grundform unserer psychischen Verfaßtheit, sondern ein politisches Bekenntnis. Der Konservatismus entsteht als Reaktion auf die revolutionären Umbrüche, ist wie die Linke ein modernes Phänomen und verortet sich, in Abgrenzung von dieser, quasi automatisch auf der Rechten. Die Rechte ist somit der Konservatismus seit seinem Eintreten in die Sphäre des Politischen, seit seiner politischen Geburt. Als Partei des Bestehenden konnte er nur solange gelten, wie er noch eine soziale Klasse, Adel und Großgrundbesitz, repräsentierte und, langfristig zu seinem Schaden, mit den tatsächlich Regierenden koalierte. Nach 1918 wurde er dieser sozialen und funktionalen Verankerung gänzlich beraubt; der Konservative hatte nichts mehr zu bewahren, sondern allenfalls wiederherzustellen. Sein Interesse galt jedoch nicht so sehr dem Gewesenen, wie es – wirklich oder vermeintlich – war, sondern wie es hätte sein sollen (Rudolf Borchardt), also letztlich dem Großen und Gültigen, das allein zu bewahren lohnt (Moeller van den Bruck). Da dies nicht vorhanden, sondern allenfalls in einem historischen Sprung erreichbar ist, ergibt sich das Paradox einer konservativen Revolution.

Hugo von Hofmannsthal, der diesen Begriff in seiner berühmten Rede "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation" (1927) populär gemacht hat, bestimmt die konservative Revolution als einen gegenwärtigen Prozeß, dessen Ziel "eine neue deutsche Wirklichkeit" ist, "an der die ganze Nation teilnehmen könne". Vor allem denkt er dabei an eine nationale Literatur, die auch das Populäre mit umfaßt und an der alle gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen Anteil haben. Die Nation ist somit ein sprachliches und kulturelles Phänomen, ein "geistiges Anhangen" ihrer Glieder untereinander.

Nicht nur aus der besonderen Sicht des Österreichers scheint es sinnvoll, das Nationale als eine sprachliche und literarische Kategorie zu verstehen – Literatur dabei in einem ganz weiten Sinne genommen. Selbstverständlich gibt es andere Kriterien, die ebenfalls herangezogen werden können, Rasse etwa, Religion und Rechtssystem; jedoch haben sie keine der Sprache und der von ihr geprägten Kultur vergleichbare Kraft. Rassen unterscheiden sich nämlich zu wenig, Religionen und andere Denksysteme zu sehr voneinander, und bloße Rechtsnormen genügen nicht, um eine wirkliche Einheit zu stiften. Der vielbeschworene "Verfassungspatriotismus" bleibt eine Kopfgeburt. Zudem sind alle diese Merkmale den Nationen übergeordnet und lassen sich nicht auf sie begrenzen.

Bedroht sah Hofmannsthal die Nation vor allem durch die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten; aus heutiger Sicht lassen sich gewiß noch einige Differenzen mehr anführen. Das Hauptproblem indessen ist in der Tat ein mediales, wenngleich in einem anderen als dem von Hofmannsthal hervorgehobenen Sinne: Der Informationsprozeß vollzieht sich immer weniger als "Schrifttum" und kaum noch in den Grenzen eines "geistigen Raumes der Nation". Er codiert sich vielmehr in abstrakten Computersprachen, flimmert in bunten Bildern über global vernetzte Bildschirme und jagt auf elektronischen Datenautobahnen durch virtuelle Welten. Eine nationale Einbindung scheint kaum mehr möglich. Frühere Modernisierungsschübe, selbst die erste Phase der Industrialisierung, ließen sich noch für die Interessen der Nation funktionalisieren, obgleich auch sie schon ihren Rahmen sprengten. Wurden die ideologischen Gegensätze zur Moderne zu groß, dann konnte man letztere immer noch als "die Zivilisation" auf den außenpolitischen Gegner projizieren, um sich allein die wahre, "natürlich" gewachsene Kultur zuzusprechen. Dergleichen verbietet sich heute aufgrund der Einsicht, daß die Zivilisation nicht Gegenteil sondern Konsequenz der Kultur, daß die Technologie nicht Entartung sondern Produkt des Geistes ist. Die Herausforderung, wenn nicht das Schicksal des Konservativen besteht somit darin, eine Antwort auf die totale Globalisierung zu finden und ihrer nivellierenden Gewalt einen neuen Sinn für Vielfalt – und das heißt auch für Grenze und Hierarchie – entgegenzusetzen. Zwar wird auch die Globalisierung Grenzen hervorbringen oder an Grenzen stoßen, aber es empfiehlt sich allemal, sich an der Grenzziehung zu beteiligen, solange man noch eine Möglichkeit dazu hat. Es ist fraglich, ob die Furcht vor den Risiken der Globalisierung als Motivation dazu ausreicht, zumal in den Medien meist nur von ihren Verheißungen die Rede ist. Weit mehr ist es die Langeweile, der Überdruß an diesen Verheißungen, der heute den Konservativen kennzeichnet. Wohl niemand mehr ist auf positive Weise, durch Vorbild und Erziehung, durch das "geistige Anhangen", mit einer Art von Tradition verbunden, sondern er erkämpft sie sich bestenfalls ex negativo: nach einem erfolgreichen Prozeß der Abnabelung, der trotzigen Abgrenzung von den Ewigen Moralmenschen und ihren Gedenkritualen, Mahnmalen und Betroffenheitskundgebungen. Der Widerstand des heutigen Konservativen bzw. sein oft ziemlich schillerndes, widersprüchliches und (trotz Heidegger und Carl Schmitt) überhaupt nicht "dezisionistisches" Lebensgefühl, ist somit weniger sozial als vielmehr emotional und ästhetisch motiviert.

Zweifellos hat diese Art von Unangepaßtheit und ästhetischer Opposition etwas Dandyhaftes und Bohemistisches; Träger dieser Gesinnung sind "durchaus Vereinzelte, aber um die höchsten Bindungen Bemühte", und es veranschaulicht ihre Entwurzelung und ihr Streben nach Geltung und Festigkeit auch noch nach über siebzig Jahren, wenn Hofmannsthal sagt: "Ich weiß kein treffenderes Wort, sie zu bezeichnen, als daß ich sie mit dem Worte nenne, mit dem Nietzsche in der ersten ’Unzeitgemäßen Betrachtung‘ diese deutsche Geisteshaltung bezeichnet hat: daß ich sie Suchende nenne, unter welchem Begriffe er alles Hohe, Heldenhafte und auch ewig Problematische in der deutschen Geistigkeit zusammenfaßte und es gegenüberstellte allem Satten, Schlaffen, Matten, aber in der Schlaffheit Übermütigen und Selbstzufriedenen: dem deutschen Bildungsphilister."

Den selbstzufriedenen Bildungsphilister darf man sich wie zu Kohls Zeiten auch in der angebrochenen rot-grünen Ära gerne als liberalpragmatischen Standortsicherer oder – etwas geistiger – als öffentlichen Mahnmalentwerfer vorstellen; wichtig ist für uns sein Opponent, der "suchende" Konservative (an dessen angeblich so spezifische "deutsche Geistigkeit" wir allerdings nicht so recht glauben und deren Betonung auch bei seinen Gegnern sehr beliebt ist). Sein Bestreben richtet sich heute nicht mehr deshalb auf die eigene Nation, weil er von ihrer historischen Größe und Auserwähltheit überzeugt ist, sondern weil er sie in ihrer Kleinheit und schwindenden Bedeutung vor dem völligen Untergang bewahren will. Sein Nationalbewußtsein hat – im Zeitalter der Globalisierung – mit Imperialismus nicht das geringste zu tun, wie absurderweise gern behauptet wird, ebensowenig mit Fremdenfeindlichkeit und Haß auf andere Kulturen. Vielmehr sucht er gerade aus Liebe zur Kultur – zu Kultur überhaupt, der eigenen und der fremden – die postmodernen Splitter und Versatzstücke der verschiedenen Kulturen vor ihrer vollständigen Vermengung zu bewahren. Anstatt die Scherben mit dem spießigen Revoluzzer-Avantgardismus der etabliert-aufgeregten Konsenskünstler in immer kleinere Stücke zu zerschlagen, will er sie vielmehr zu einem neuen Ganzen zusammenfügen. Der Freund der Kultur, die dem Wortsinne nach das Verehrungswürdige bezeichnet, mit (heute weitgehend verlorener) Tradition und Hierarchie somit untrennbar verbunden ist, steht somit rechts und in deutlicher Opposition zu liberalkonservativen Globalisten und rot-grünen Multi-Kulti-Strategen, die sich trotz ihrer rhetorischen Gegensätze zueinander wie Basis und Überbau verhalten (um den Marxismus einmal in Form eines Gleichnisses zu verwenden).

Aus dem hohen, vielleicht vermessenen Anspruch des Konservativen, aber auch aus seinem Glauben an die Unterschiede zwischen den Menschen, ergibt sich das Bekenntnis zu einer Elite, das den egalitären Bestrebungen der Linken grundsätzlich entgegengesetzt ist. Die damit verbundene Betonung des Autoritativen sollte allerdings keinem – von der Linken schon genügend gepflegten – Etatismus huldigen, sondern sich auf die charismatische Einzelperson richten. Eine Wiedergewinnung des Charismas für die Politik – nicht seine schablonenhafte Inszenierung – könnte vielleicht einen Ausweg aus der Dauerkrise von Parteienherrschaft und Politikverdrossenheit weisen. Im Zusammenhang mit dem Problem der Autorität ist auch das fragwürdige Oszillieren der Rechten zwischen ihrer Kritik an der permissiven und antiautoritären Gesellschaft und ihrer ebenso berechtigten Kritik an deren repressiven Moraldiskursen neu zu bedenken. Es wirkt nicht sehr überzeugend, Freiheit vor allem für sich selbst und mehr Strenge für andere zu fordern. Ob es freilich überzeugender ist, für jeden dieselbe möglichst absolute Freiheit, unabhängig von seinen Möglichkeiten und Verdiensten zu fordern, steht auf einem anderen Blatt.


 
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