© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
Walser-Kontroverse I: Nach der Polemik kommt die Nachdenklichkeit
Ein Meister aus Menschheit
Klaus Hornung

"Die Wahrheit ist immer das Ganze", das wissen wir wenn nicht schon seit Hegel, so doch von der kritischen Theorie Adornos und Horkheimers. Aber für die deutsche Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts haben wir kaum Gebrauch von dieser Einsicht gemacht. Sie wird mehrheitlich noch immer in germanozentrischer Verengung gesehen mit "den Deutschen" als Alleindarstellern und Allein-Schuldigen auf der Bühne des halben Jahrhunderts.

In deutschen Schulen lernt man vor allem die Jahreszahlen 1933 (Hitlers Machtergreifung), 1938 (die "Reichskristallnacht"), 1939 (Hitlers Kriegsbeginn), 1941/44 (der Holocaust). Wo aber bleiben die vielen Wechselwirkungen der Epoche, jenes Netz von Vorbedingungen, aus dem Geschichte sich knüpft? Wo bleibt der Erste Weltkrieg und sein Ausgang, der Sturz der alten Monarchien in Deutschland, Rußland, Österreich-Ungarn, im Osmanenreich? Wo bleiben Versailler Vertrag, Inflation und Weltwirtschaftskrise, wo die gemeinsame Auslösung des Zweiten Weltkrieges durch den Pakt der Diktatoren vom 23. August 1939?"Die heute in Politik und Medien tonangebende Generation kann mit den ersten 45 Jahren des 20. Jahrhunderts in den eigenen Köpfen nicht umgehen, glaubt aber ganz genau zu wissen, wie alle anderen, die damals lebten, hätten handeln sollen" (Helmut Schoeck).

Man mache nur einmal die Gedankenprobe: Für die Verbrechen der Bolschewiki werden im Weltbewußtsein nicht "die Russen" verantwortlich gemacht, sondern – zu Recht –Stalin und seine Leute, der "Stalinismus". Warum also stets "die Deutschen" in toto? Zur ganzen Wahrheit gehört eben auch, zu sehen, wie die Deutschen in jenen schlimmen zwölf Jahren von der totalitären Herrschaft belogen und betrogen wurden; wie sehr sie bereits seit 1933/34 von einem immer perfekteren Überwachungsstaat gefesselt waren; daß die große Mehrheit vom Holocaust nichts wußte, den man ihr mit allen Mitteln fernzuhalten versuchte, daß sie an "bolschewistische Gefahr" und "Volksgemeinschaft" glaubte und nicht wissen konnte, was wir heute wissen. Was die geschichtliche Wahrheit anbelangt, muß das Urteil also lauten: nicht die Deutschen, sondern "Deutsche". Das bleibt noch immer der Schande und Scham genug.

Der Schriftsteller Martin Walser hat in seiner Paulskirchenrede am 11. Oktober (JF 43/98) und dann nochmals in dem Dialog mit Rudolf Augstein "Erinnerung kann man nicht befehlen (Spiegel 45/98) deutlich gemacht, daß wir als Zeitgenossen "hineinverwirkt sind in diesen Dreck", auch ohne Täter gewesen zu sein und ohne das Wissen der damaligen Mehrheit um die Judenvernichtung im Osten.

Das ist ob ihrer Ehrlichkeit und Unverstelltheit, gerade auch im genannten Dialog, nicht ohne therapeutische Wirkung und wird inzwischen auch weithin als solche empfunden.

Die geschichtliche Wahrheit bleibt gebunden an höchst individuelle Differenzierung und an das "Ganze". Daraus hat nicht zuletzt die Zeitgeschichts-Wissenschaft Folgerungen zu ziehen und die Wechselwirkungen des historischen Gewebes noch mehr als bisher zu verdeutlichen, so wie der Berliner Historiker Ernst Nolte damit vorgegangen ist, nicht um die Deutschen zu entschuldigen, wohl aber, um die Wahrheit des Ganzen zu sichten.

Denn nur diese Wahrheit, das spüren viele unterdessen, und nicht "volkspädagogisch" zurechtgebogene Teilwahrheiten, vermag letztlich wahrhaft sittliche Wirkung auszustrahlen. Im Licht der ganzen Wahrheit ist auch und gerade "Auschwitz" das schaudernde DenkMal dessen, wozu der Mensch unter bestimmten Bedingungen fähig ist. Das schließt die Verantwortung jedes Einzelnen für das Entstehen solcher Bedingungen ein. Die kathartische Wirkung der Geschichte, die wahrhaft sittliche "Betroffenheit" des einzelnen erwächst letztlich aus der Erkenntnis, die Jorge Semprun, spanischer Häftling in Buchenwald, im dialektischen Widerspruch zu Paul Celans "Der Tod ist der Meister aus Deutschland" in dem Satz zusammengefaßt hat:"Der Tod ist ein Meister aus Menschheit". Es wäre viel, wenn nicht alles, wenn wir diese Einsicht den Nachkommen vermitteln könnten.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen