© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
Abschied: Zum Tode von Niklas Luhmann
Differenz statt Einheit
Holger von Dobeneck

Es gibt Personen und Assoziationen, die sich unauslöschlich einprägen. Da sind zum Beispiel Kant und sein Diener Lampe, Schopenhauer und sein Pudel Atman, Niklas Luhmann und sein Zettelkasten.

Dem Zettelkasten fehlt nun die ordnende Hand, denn Luhmann starb am 6. November kurz vor seinem 71. Geburtstag. Der Soziologe Luhmann ist der bekannteste Vertreter der soziologischen Systemtheorie, der seinen Mentor Talcott Parsons weit hinter sich gelassen hat. In einer eigenwilligen Terminologie hat er ein voluminöses Gesamtwerk hinterlassen, dessen theoretischer Zugriff beinahe das gesamte Inventar dieser Welt umfaßt. Vertrauen, Liebe, Macht, Religion, Wissenschaft, Kunst – alles wird von seiner Theorie begriffen. Sie stellt sozusagen eine Welttheorie dar, und nicht umsonst ist Luhmann Hegel-Preisträger. Doch noch mehr weiß sich diese philosophische Soziologie Kant verpflichtet, ist doch Luhmann konsequenter Konstruktivist. Was nämlich als System betrachtet wird, bestimmt die Perspektivik und Selektivität des Beobachters. Die Welt ist ungeheuer komplex, und weil dies so ist, nannte sich Luhmann einen Konservativen aus Komplexität.

Bekanntgeworden ist er auch durch die Formel, daß es Aufgabe der Wissenschaft sei, Komplexität durch ihre Konstruktionen zu reduzieren. Seine eigenwillige Sprache begründet sich dadurch, daß er einen Traditionsbruch vollzieht, indem er Abschied vom alteuropäischen Denken nimmt; damit verlieren viele Begriffe ihre gewohnte Bedeutung.

Er weist ihnen eine funktionale Bedeutung zu. So sind zum Beispiel Vertrauen, Liebe und Macht symbolisch generalisierte Medien, die Aktivitäten in Gang setzen und unterhalten. Das Denken in Strukturen und Funktionen ersetzt somit den alteuropäischen Essentialismus. Das System nun generiert seine Struktur durch seine Eigenlogik; was nicht zu ihm gehört, gehört zur Umwelt. Luhmann stellt also von Einheit auf Differenz um. Eine die gesamte Gesellschaft umfassende Einheit gibt es nicht mehr, es gibt nur noch ausdifferenzierte Subsysteme, die ihrem eigenen binären Code folgen. Die Codierung erfolgt im System Wissenschaft nach dem Kriterum der Wahrheit, im Rechtssystem nach Rechtmäßigkeit, im Wirtschaftssystem nach Zahlungsfähigkeit und im Mediensysetm nach Information.

Angesichts einer abstrakten und spröden Begriffswelt fragt sich, warum so viele von Luhmann fasziniert sind. Im wesentlichen liegt diese Faszination wohl daran, daß seine Theorie den Graben des Mißverstehens zwischen den Natur- und Kulturwissenschaften zu überbrücken sucht und eine Einheit des Wissens methodisch herzustellen verspricht. Das Feld, das Luhmann abschreitet, ist grenzenlos; es gibt keine Esoterik, keine Seltsamkeit, die vorab aus dem Relevanzbereich der Soziologie ausgeschlossen ist.

So hat sich Luhmann zum Beispiel auch mit der Semantik der Liebe beschäftigt. In seinem Buch "Liebe als Passion" beschreibt er die wechselvolle Geschichte der Intimbeziehungen, angefangen bei der höfischen Idealisierung über die Vorstellung der Liebe als Leidenschaft bis zur Zweckbindung in der Ehe. In Anspielung darauf bekam er zu seinem 60. Geburtstag eine Festschrift mit dem treffenden Titel "Theorie als Passion". Ein weiterer Grund liegt darin, daß viele die moralisierenden, normativen Daueranstrengungen der Frankfurter Schule einfach leid waren.

In der Tat hielt Luhmann nicht viel von dem Ton der Empörung, der die Frankfurter Schule auszeichnete. Im altmodischen Sinne betrieb er sine ira et studio deskriptive Wissenschaft, angereichert mit viel Ironie. Er karikierte gern das Rotkreuzbewußtsein der Grünen, die sich um den Patienten Natur kümmern. In gewissem Sinne war er ein pessimistischer Skeptiker, der davon ausging, daß wir alle sehr viel weniger wissen, als wir zu glauben meinen. Wenn er auch den "take off" der Moderne nachzeichnete, so gab er doch die Prognose, daß wir uns eigentlich im Blindflug befinden.

Auch wenn Luhmann nun verstummt ist, gibt es dennoch weiter seine Stimme. Auf 30 Cassetten ist eine Vorlesungsreihe aufgezeichnet, die unter dem Titel "Autobahnuniversität" vom Heidelberger Carl-Auer-Systeme-Verlag vertrieben wird. Eine Luhmann-Vorlesung, die so manchen geistreichen Seitenhieb auf die 68er im Originalton enthält, kann somit selbst unter dem Weihnachtsbaum oder in der Toskana stattfinden.


 
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