© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/98  27. November 1998

 
 
LOCKERUNGSÜBUNGEN
Kein Halt ohne Schuld
Karl Heinzen

Die neue Bundesregierung hat die in sie gesetzten Erwartungen im ersten Monat ihrer Geschäftigkeit nicht erfüllt. Sie hat konkurrierende Parteien bislang keinen Repressalien ausgesetzt – auch der außerordentliche Parteitag der CDU vollzog zwar eine Unterwerfung unter die neuen Fakten, endete jedoch nicht mit der vielerorts vermuteten Selbstauflösung. Auch unter Schröder halten die Gewerkschaften derzeit still: Wilde Betriebsbesetzungen zur Behinderung einer drohenden Kapitalflucht sind noch nicht bekannt geworden. Die Regierung zeigt sich zum Kompromiß bereit und opfert für einen solchen notfalls sogar Wahlversprechen. Zur Durchsetzung einer Neukonzeption der 620-Mark-Jobs hat sie nicht um eine militärische Intervention der Sowjetunion gebeten – und dies sicher nicht nur, weil es eine Sowjetunion nicht mehr gibt.

Versiegt der beschworene Neuanfang in nicht minder beschworener Kontinuität? Auf den allermeisten Politikfeldern mag dies so sein, in der Außenpolitik aber auf gar keinen Fall. Joseph Fischer hat mit seinem Vorgänger zwar ein gewisses Nicht-anders-Können gemein, ihre Vorstellungswelten aber sind kaum in Einklang zu bringen. "Man darf nicht an der falschen Stelle mit den Wimpern zucken", faßt Fischer jetzt seine Philosophie im Bonner "General-Anzeiger" zusammen und setzt sich damit markant von jenem physiognomischen Understatement ab, mit dem Klaus Kinkel selbst einfachste Gedankengänge vorzutragen pflegte. Man steht als Deutscher schon aufgrund der Schuld, die man in diesem Jahrhundert auf sich geladen hat, im Zentrum der Weltpolitik. Es gilt also, jenseits von Elfenbein- und Wachturm eine Position zu finden, von der herab die deutsche Außenpolitik der Menschheit eine Perspektive eröffnen kann. China, Irak, Türkei, Indonesien: so weit – oder auch so nahe – diese Länder voneinander entfernt liegen mögen, sie sind durch die Menschenrechtsproblematik miteinander verbunden.

Ein Regime, das die Menschenrechte mißachtet, wird keine Skrupel haben, auch ausländische Investitionen anzutasten und so den Rückfluß jener Gewinne zu verhindern, die deutsche Unternehmen erwirtschafteten und mit denen sie hierzulande Arbeitsplätze und ökologische Innovation finanzieren sollen. So hängt alles auf der Welt miteinander zusammen, und deshalb ist eine auf die universale Verwirklichung der Menschenrechte fixierte Interessenpolitik immer zugleich auch Weltpolitik. Deutschland muß mit in vorderster Reihe stehen, wenn es gilt, sich für diese Prinzipien auch in vermeintlich innerstaatliche Belange einzumischen, es muß sich diesen Platz sichern, wenn es denn aus seiner historischen Belastung eine Perspektive ableiten möchte. Denn über eines müssen wir uns unterdessen im Klaren sein: Nach dem Ende des Kalten Krieges gibt es keine Blocklogik mehr, die uns einen Verzicht auf Außenpolitik vergessen läßt. Wir haben nur noch unsere Schuld, die uns Halt und Orientierung gibt.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen