© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/98  04. Dezember 1998

 
 
Pankraz,
Yoga und der Organmarkt als conversation stopper

Blümerant zumute ward Pankraz bei der Lektüre eines Aufsatzes von Dieter Birnbacher ("Info Philosophie" 4/98) über Organtransplantation und Organhandel. Geschildert wurde zunächst das grausame Elend der Patienten, denen nur noch durch Organimplantat zu helfen war, angesichts des horrenden Mangels an zur Verfügung stehenden Fremdorganen. Und anschließend kam der Autor mit knallharten Forderungen, die in der von ihm eröffneten Perspektive nur allzu berechtigt erschienen.

Erstens, hieß es, sollte zum Gesetz erhoben werden, daß jedem Gehirntoten (auch gegen seinen erklärten testamentarischen Willen) Organe entnommen werden könnten, falls diese noch medizinisch verwertbar seien. Zweitens sollte von der Gesellschaft, von den Medien, von den Schulen ein moralischer Druck auf alle Bürger ausgeübt werden, um die Hemmschwelle zu senken, die derzeit noch vor der Bereitschaft liege, lebendigen Leibes Organe zu spenden. Drittens sei ein effektiver Organhandel auf internationaler Ebene zu organisieren, wie er "in Indien mittlerweile realisiert" sei. Das also waren die Forderungen von Herrn Professor Birnbacher.

Ethisch war alles gut abgesichert, jedenfalls ohne weiteres vertretbar. Hilfe für die Lebenden, so wurde argumentiert, gehe allema1 vor körperlicher Unversehrtheit der Toten. Die Bereitschaft, schon als Lebender bei Bedarf Organe zu spenden, zeuge von Mitleid, Solidarität, hohen moralischen Standards. Und ein gut funktionierender, staatlich scharf kontrollierter Organhandel sei im Zeichen der Globalisierung und der schnellen Transportwege die pure Selbstverständlichkeit.

Die Bedenken, die beim Leser aufkommen, sind denn auch weniger ethischer als ästhetisch-kultureller Natur. Selbst wenn, was Birnbacher offenbar für möglich hält, Mißbrauchspraktiken, z. B. üble Geschäftemacherei, Mord zur Organerlangung oder Selbstverstümmelung aus purer sozialer Not, strikt unterbunden werden könnten, steigen doch unabweisbar Sittenbilder in die Vorstellung, die äußerst degoutant, ja, geradezu alptraumhaft sind und jedes halbwegs zivilisierte Gemüt mit Grausen erfüllen.

Soll etwa künftig an jeder Unfallstelle, bei jeder Hinrichtungs-Zeremonie, faktisch an jedem Sterbebett ein Ausweide-Gutachter stehen oder eintreffen, der den jeweiligen Organwert des Opfers feststellt und für umgehende Verwertung sorgt? Sollen wir uns wirklich alle daran gewöhnen, als lebende Organbank herumzulaufen und ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn wir noch keine Niere, kein Auge oder keinen Gehirnlappen an unseren Nächsten abgegeben haben? Sollen denn unversehrte, schöne Körper rein gar nichts mehr gelten?

Mag sein, der "eigentliche" Mensch, seine Würde und Integrität liegen in der Seele, in der psychischen Identität und Kontinuität. Aber das ändert doch nichts daran, daß, wenn schon nicht unser Verstand, so doch unser Gefühl, unsere Empfindungen eine ganze Menge mit unserer Körperlichkeit zu tun haben, daß wir uns in ihr intensiv zu Hause fühlen und sie durchaus als einen Teil unserer selbst verstehen.

Hat Birnbacher noch nichts von psycho-somatischer Einheit gehört? Unendlich viele ehrwürdige Sozialpraktiken, vom indischen Yoga bis zur griechisch-antiken Gymnastik, zielen auf die Herstellung dieser Einheit ab, für sie ist der Körper kein zufälliges Agglomerat, sondern sehr wohl Geist-inspiriert, während er seinerseits den Geist nicht unwesentlich prägt, ihn moduliert, viele seiner Denkwege bestimmt.

Auch das verbreitete Zögern, seinen Körper nach dem Tode zur Weiterverwertung und Wiederverwendung freizugeben, läßt sich nicht einfach vom Tisch wischen. "Was als Ganzes stirbt, das soll nicht in Einzelteilen weiterleben" – eine solche Einstellung ist nicht unbedingt "vormodern" oder "schamanisch", sondern zeugt unter Umständen von einem Respekt vor der Schöpfung, der Achtung verdient.

Für die betroffenen Patienten, die auf der Organ-Warteliste stehen, ist die Knappheit an Spenderorganen ein tragisches Verhängnis, und keinem von ihnen sind gesamtgesellschaftliche Ästhetik~ Perspektiven zuzumuten. Dennoch bleibt es dabei: Die Aussicht auf "Organ-Fülle" statt der Knappheit, auf einen florierenden "Organmarkt", auf riesige Tiefkühlmagazine, wo Tausende von menschlichen Körperteilen, geistbefreit, auf Einsatz warten, behält etwas Kannibalisches, das verstört und anwidert. Ein echter "conversation stopper", wie Birnbacher selber einräumt.

Zudem wirkt der Glaube an die Vermeidung von Mißbräuchen reichlich blauäugig. Schon heute kursieren Berichte aus Brasilien oder Indien über von der Dorfgemeinschaft gebilligte Morde an "überflüssigen", sprich: unerwünschten, Kindern, deren Organe man eifrig an westliche Einkäufer verscherbelt. Oder man erinnere sich jener (nicht ganz gesicherten) Horrornachrichten aus China, wonach angeblich das "Hinrichtungssoll" der Strafanstalten immer dann von den Behörden heraufgesetzt wird, wenn ein wachsender Bedarf an Fremdorganen zu registrieren ist.

Kommt die Chose erst einmal weltweit richtig in Schwung, so ist zu befürchken, daß sehr schnell sämtliche ethischen Schranken fallen. Analysten und Konzerne werden sich des Geschäfts annehmen, um es zu optimieren und für Shareholder attraktiv zu machen. Neue Arbeitsplätze werden entstehen, neue, interessante Berufsrollen, und die Abzocker können sich womöglich sogar noch als Retter der Verzweifelten aufspielen. Da ist es wohl tatsächlich besser, man verharrt freiwillig in knappen Zeiten. Die haben immerhin den Vorteil, daß Entscheidungen über Leben oder Tod nicht zur flachen Routine werden, von den Beteiligten vollen existentiellen Einsatz fordern, echtes Mitleid, leidenschaftliche Hilfsbereitschaft.


 
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