© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/98  11. Dezember 1998

 
 
Südtirol: Peter Paul Rainer über seine Haft, die Berufungsverhandlung und seine überraschende Freilassung
"Der oder die Täter konnten sich sicher sein"
Gerhard Quast

Herr Rainer, wie empfinden Sie das Gefühl der Freiheit nach mehr als 21 Monaten Haft?

Rainer: Durch den Presserummel, durch die ganzen Anrufe von Verwandten, Freunden und Bekannten und durch viele Telegramme, die hier eingehen, hatte ich noch kaum Gelegenheit, überhaupt einmal ganz tief wieder Freiheit- und Heimatluft durchzuatmen. Allein, daß ich heute hier wieder stehen und zum Fenster herausschauen und dieses schöne Land sehen kann, aus dem ich fast zwei Jahre lang verbannt war, ist ein unbeschreiblich großartiges Gefühl.

Haben Sie mit dem Freispruch gerechnet?

Rainer: Es war genauso wie in erster Instanz für mich klar, daß es gar kein anderes Urteil geben kann. Nun, parallel dazu gibt es die Erfahrung der ersten Instanz, wo mit einem Schuldspruch plötzlich das Unmögliche möglich geworden ist. Deshalb ging ich natürlich mit einer ungemeinen Anspannung in die Urteilsverkündung der zweiten Instanz: Auf der einen Seite weiß man, daß es nicht anders sein kann, mußte aber die Ohnmacht erleben, die Ohnmacht, die mir eigentlich erst nach dem Urteil der ersten Instanz bewußt wurde, daß ich über mein Leben überhaupt nicht mehr entscheiden kann, sondern daß mein Leben und die Entscheidung über mein Leben in den Händen der Richter liegt. Das wird einem in einem solchen Moment richtig bewußt. Und so habe ich auch in meiner letzten Wortmeldung vor Urteilsfindung gesagt: "Mein Leben liegt in Ihren Händen. Sie entscheiden über mein Leben." Auf der einen Seite also das Wissen, es kann nicht anders sein, und auf der anderen Seite dieses Ohnmachtsgefühl, daß man mich zwei Jahre meines Lebens beraubt hat. Da bleibt natürlich ein bitterer Beigeschmack zurück, den es zu verarbeiten gilt. Es sind so viele Fragen offen, die sich jetzt erst richtig stellen, und dann ist noch dieser ganze psychische Druck, den man erleben mußte.

Was hat sich für Sie persönlich geändert nach dieser Haftzeit. Sehen Sie heute die italienische Justiz mit anderen Augen?

Rainer: In meiner letzten Stellungnahme habe ich gesagt, daß das Gericht mir das Vertrauen in die Justiz zurückgeben kann und daß das Gericht die einzige Instanz ist, die das kann. Das ist mit dem Urteilsspruch geschehen. Das ist ein Aspekt. Der andere Aspekt ist: In meinem Mißtrauen gegenüber dem ermittelnden Staatsanwalt und gegenüber den Ermittlungsbehörden – aus dem ich nie ein Hehl gemacht habe und das auch eine Rolle spielte in diesem ganzen Verfahren – hat sich überhaupt nichts geändert, ganz im Gegenteil: Wie ich in meiner letzten Wortmeldung gesagt habe, brauchen wir uns nichts vorzumachen über mein Verhältnis zu der ermittelnden Staatsanwaltschaft. Die Leute kennen meine politische Einstellung. Wir haben bis vor zwei Jahren in derselben Welt gelebt, und da wurde ich durch meine persönliche Erfahrung nur in allem bestätigt. Da gibt es kein Vertrauensverhältnis. Allerdings, was mögliche Verantwortlichkeiten angeht, dazu gibt es vorgesetzte zuständige Stellen, die dies zu prüfen haben. Ich hoffe, daß sie das prüfen und Konsequenzen daraus ziehen. Das kann natürlich nicht ich tun, aber ich kann zumindest diese Frage aufwerfen, nachdem ich 21 Monate unschuldig in Haft saß.

Was unterschied das Berufungsverfahren unter Gerichtspräsident Marco Pradi von der ersten Instanz, daß das Gericht diesmal zu einem Freispruch kam?

Rainer: Ich glaube, es sind insbesondere drei Faktoren. Zum einen der Gerichtsstandort. Der erste Prozeß fand am Landesgericht Bozen statt, in einem ausgesprochen unruhigen Klima. Das Berufungsverfahren fand hingegen am Oberlandesgericht in Trient statt, also außerhalb Südtirols. Zweitens haben die Richter in zweiter Instanz andere Wertungen vorgenommen. Dinge, die in erster Instanz zwar bereits angedeutet wurden, aber aus denen man keine oder falsche Konsequenzen gezogen hat, sind bei der zweiten Instanz in den Urteilspruch eingeflossen.

Meinen Sie damit, daß Beweismittel nicht zugelassen wurden oder nicht richtig bewertet wurden?

Rainer: Beispielsweise, aber auch, daß nicht zur Kenntnis genommen wurde, daß ich nicht korrekt über meinen Rechtsstatus informiert wurde. Das wurde bereits in erster Instanz festgestellt. Das heißt, ich wurde zuerst als Zeuge einvernommen, obwohl gegen mich bereits als Verdächtigen ermittelt wurde. Das ist in der Strafprozeßordnung ein grundsätzlicher Unterschied. Denn der Zeuge wird als Zeuge angehört, der unter Ermittlung Stehende muß einen Rechtsbeistand haben. Hätte man mich über meinen Rechtsstatus von Anfang an informiert, wäre natürlich von Anfang an ein Rechtsanwalt anwesend gewesen. Das hat das Gericht zwar in erster Instanz bereits zur Kenntnis genommen, und hat mir die erste Erklärung, die ich als Zeuge abgegeben habe, annulliert, aber dann nicht die Konsequenzen für das Urteil daraus gezogen. Und drittens – und das ist das Entscheidende: Es sind eine ganze Reihe neuer Faktoren dazugekommen, neue Zeugen, die gehört wurden, neue Ermittlungen, die in erster Instanz – obwohl gefordert – nicht angeordnet, durch das Oberlandesgericht hingegen angeordnet wurden. Ein weiterer wichtiger Faktor war die vollständige Niederschrift des ersten Verhörs mit dem falschen Geständnis. Das Gericht erster Instanz schreibt zwar in dem Urteil, sie hätten nicht nur die Niederschrift, die ja eine Zusammenfassung ist, als Grundlage genommen, sondern auch die Tonbandaufzeichnungen, die durch die Strafprozeßordnung verpflichtend vorgesehen sind. Tatsächlich wurde aber von den Anwälten zu Recht immer angezweifelt, ob diese Tonbandaufnahmen vom Gericht erster Instanz überhaupt angehört wurden. Aus dem Grund forderten wir eine vollständige Abschrift der Tonbandaufzeichnung, nicht nur eine Zusammenfassung. Und siehe da, es kommt ein vollkommen anderes Bild heraus. Denn die Zusammenfassung war eine vollkommene Verzerrung des ersten Verhörs. Diese drei Faktoren waren wohl ausschlaggebend für eine Neubewertung durch das Oberlandesgericht.

Sehen Sie das Urteil aus erster Instanz als Justizirrtum oder sehen Sie sich gar als Opfer eines politischen Komplottes?

Rainer: Ich bin ein politisch denkender Mensch. Natürlich gehen automatisch die Gedanken in diese Richtung. Es gibt jetzt viel zu bewerten und zu analysieren. Das Wort des "politischen Komplottes" ist natürlich ein sehr hartes Wort. Denn wäre es so, dann stellen sich natürlich sehr viele Fragen und sehr bedrückende Fragen. Dann stellt sich auch die Frage, auf welcher Ebene das passiert ist, in welcher Verantwortlichkeit. Ich glaube, daß das Bozener Gericht, das das erstinstanzliche Urteil gefällt hat, nicht unter diesem Blickwinkel zu sehen ist. Dort wurden teilweise Fakten falsch bewertet. Man nahm sie zwar zur Kenntnis, aber man zog die falschen Konsequenzen daraus. Das Gericht zweiter Instanz hatte eine ganze Reihe neuer Elemente zur Verfügung, die letztendlich entscheidend waren. Das wäre aber nur eine Ebene, nämlich jene des Gerichtes. Dann kommt die Ebene der Ermittler, die letztendlich die Anklage geführt haben. Und dann wäre ja noch die Ebene jener, wer immer das sein kann, die ein Interesse oder potentielles Interesse gehabt haben könnten, zu sagen, ein Peter Paul Rainer ist uns politisch gefährlich, versuchen wir ihn auf irgendeine Form unschädlich zu machen, auszuschalten, aus der politischen Landschaft zu verbannen, hinter Gefängnismauern lebendig zu begraben, um ihm jede politische Arbeit kategorisch unmöglich zu machen. Da stehen natürlich viele Fragen im Raum, die ich jetzt nicht beantworten kann. Könnte ich sie beantworten, wäre mir sehr viel wohler. Denn sieht man die Aktivitäten rund um das Berufungsverfahren, wo ominöse Drohbriefe aufgetaucht sind, wo zuletzt sogar angeblich gefälschte Geheimdienstberichte auftauchten, die offensichtlich alle ein Ziel hatten, meine Verteidigung durcheinanderzubringen und mir zu schaden, die darauf angelegt waren, eine Wiederverurteilung zu erreichen, scheint jemand ein großes Interesse daran gehabt zu haben, eine erneute Verurteilung zu erreichen. Das ist ein bedrückendes Gefühl, denn das heißt, daß hier im Lande Leute unterwegs sind, die dieses Interesse haben, genauso wie es ein bedrückendes Gefühl ist, daß wir einen unaufgeklärten Mord haben. Da sind die Behörden gefordert, jetzt endlich ernsthafte Ermittlungen aufzunehmen, schließlich sind seit dem Mord bereits zwei Jahre vergangen. Und ich stelle die Frage, wenn jemand dieses große Interesse hatte, von außen Einfluß zu nehmen auf das Berufungsverfahren, und sehr viel Aktivismus an den Tag gelegt hat, was bedeutet dann für den oder die Personen oder Personenkreise dieser Freispruch. Bisher konnten der Täter oder die Täter sich sicher fühlen, weil jemand anderes im Gefängnis saß.

Es stellt sich doch auch die Frage, wem Christian Waldner im Wege war?

Rainer: Das ist natürlich eine Frage, die mich auch beschäftigt, nicht erst jetzt, sondern seit der Nachricht der Ermordung und auch im Zusammenhang mit meiner Verhaftung. Was habe ich damit zu tun? Plötzlich findet man sich in einer Gefängniszelle wieder, und das schneller, als man denken kann.

In Südtirol gehen Gerüchte um, Waldner sei Opfer eines Komplotts geworden, in das Geheimdienste und Waffenhändler aus Italien und Deutschland verwickelt seien. Was halten Sie von solchen Gerüchten?

Rainer: Man kann eine Reihe von Hypothesen aufstellen, aber ich möchte mich da nicht so weit vorwagen, weil mir zwei Jahre Informationen fehlen. Es gilt jetzt eine ganze Menge nachzulesen und zu bewerten. Gefordert sind jetzt die zuständigen Ermittlungsbehörden. Meine Verteidiger haben sich wirklich bemüht, soweit es irgend möglich war – und die Möglichkeiten sind wirklich beschränkt gewesen im Gegensatz zu den Ermitlungsbehörden –, so viel Licht als möglich hineinzubringen. Ich denke, da gibt es eine ganze Reihe von Elementen, wo die Ermittler jetzt anzusetzen haben. Ob diese Elemente letztendlich zur Auffindung und zur Dingfestmachung des oder der Verantwortlichen führen, kann ich nicht sagen. Aber es sind eine ganze Reihe von sehr schillernden Figuren aufgetaucht, deren Positionen nie richtig geklärt wurden und wo ich den Eindruck hatte, als hätten die Ermittlungsbehörden an einigen Figuren und deren Positionen wenig Interesse gehabt.

Es ist natürlich trotzdem nicht gesagt, daß nun in andere Richtungen ermittelt wird. Dem Generalstaatsanwalt bleibt es vorbehalten, gegen das Urteil beim Kassationsgericht zu rekurrieren. Rechnen Sie mit einer Berufungsverhandlung?

Rainer: Ob das passiert, kann ich nicht sagen. Es gibt diesbezüglich keinerlei Stellungnahmen. Und ich habe mir ehrlich gesagt darüber keine Gedanken gemacht. Für mich ist dieses Thema abgeschlossen.

Italien war ja bekannt dafür, daß es mit Südtiroler Häftlingen nicht gerade zimperlich umgegangen ist. Ich erinnere an die Situation der sechziger und siebziger Jahre. Können Sie etwas zu Ihren Haftbedingungen sagen?

Rainer: Ich muß vorausschicken: Ich wußte bis zum Tag meiner Inhaftierung, daß es Gefängnisse gibt, aber nicht mehr. Ich kennte jetzt die Realität des Justizvollzuges in Italien, und da liegt sehr viel im argen. Ich will nicht behaupten, daß man mich generell schlechter behandelt hat als andere Häftlinge. Allerdings, daß ich in den letzten Monaten, genau als es in die entscheidende Phase des Berufungsverfahrens ging, daß ich in diesem halben Jahr einem ständigen Verlegungswirrwarr, ich nenne es sogar: Verlegungsterror, ausgesetzt war, wirft für mich einige Fragen auf. Denn ich war vorher die ganze Zeit in der Justizvollzugsanstalt in Trient in Haft, und genau zehn Tage vor Beginn des Berufungsverfahrens wurde ich verlegt: zunächst nach Verona, dann nach Bologna, dann von Bologna nach Bozen, von Bozen nach Bologna, wieder von Bologna nach Bozen und zurück nach Bologna, und schließlich nach Vicenza, wo ich die letzten drei Wochen in totaler Isolation verbracht habe, vollkommen ohne Informationen, faktisch in einem Status, wie ich nur die ersten Tage meiner Haft verbracht habe.

Sind solche Verlegungen üblich?

Rainer: Normalerweise ist es üblich, daß ein Häftling, der sich irgendwo in einer Vollzugsanstalt befindet, zum Verhandlungsort hin verlegt wird. Das ist auch naheliegend. Bei mir war es vollkommen anders. Ich wurde vor Beginn des Berufungsverfahrens plötzlich wegverlegt, in die entgegengesetzte Richtung. Und diesbezüglich stelle ich mir schon einige Fragen.

Gibt es dafür eine Erklärung?

Rainer: Wir haben bei allen Instanzen, bei allen vorgesetzten Stellen, nachgefragt, warum diese Verlegungen stattgefunden haben, aber keine offizielle Antwort bekommen. Erst am ersten Verhandlungstag erklärte der Generalstaatsanwalt auf Nachfrage des Richters, er habe informell – offizielle Antworten gibt es keine – bei der Gefängnisverwaltung in Trient nachgefragt. Dort habe es geheißen, im Juni – also zu Beginn des Berufungsverfahrens – hätten viele Wärter Urlaubsanspruch, und aus diesem Grund hätte man nicht das nötige Personal. Aber auch das ist ein Umstand, der zu bedenken gibt, denn es gab damals kein rechtskräftiges Urteil, ich war lediglich in Sicherheitsgewahrsam gewesen. Und trotzdem wurden nicht einmal die Anwälte informiert. Am frühen Morgen hieß es plötzlich "Zusammenpacken!", und eine halbe Stunde später saß ich im gepanzerten Fahrzeug mit unbestimmtem Zielort. Nachdem wir keine schlüssige Antwort darauf haben, ist es durchaus berechtigt, eigene Schlüsse zu ziehen, und ich kann nur den Schluß daraus ziehen, daß man versuchte, einen Zermürbungszustand herbeizuführen, denn letztendlich weiß man ganz genau, daß ein Prozeß eine psychische Anspannung ist, daß es die volle Konzentration braucht, weil immer wieder Dinge auftreten, die relevant sind, die sich plötzlich herauskristallisieren – und es ist sicher leichter, gegen einen Menschen im zermürbten Zustand, mit Konzentrationsschwierigkeiten, vorzugehen.

Es gab in Südtirol und auch in Österreich und Deutschland Unterstützungsgruppen, die von Ihrer Unschuld überzeugt waren. Waren Sie über diese Aktivitäten informiert?

Rainer: Diese Unterstützung war für mich ganz wesentlich. Und ich bin allen dankbar, die in diesen fast zwei Jahren unter schwierigsten Bedingungen mir geschrieben haben oder von denen ich wußte, daß sie an meine Unschuld glauben. Das hat ganz wesentlich dazu beigetragen, diese schwierige Zeit zu überstehen und durchzuhalten.


 
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