© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/98  11. Dezember 1998

 
 
Ungleich behandelt
von Frieder Berg

Im Zentrum unserer Integrationspolitik wird die Schaffung eines modernen Staatsangehörigkeitsrechts stehen." So steht es in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung. Im einzelnen sieht das politische Programm der Regierungspartner folgendes vor: Kinder ausländischer Eltern erhalten mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil bereits hier geboren oder nach seinem 14. Lebensjahr eingereist ist.

Alle Ausländer mit achtjähriger rechtmäßiger und strafloser Aufenthaltsdauer, Minderjährige nach fünfjähriger Aufenthaltsdauer und Ehegatten nach dreijähriger Aufenthaltsdauer und zweijähriger Ehezeit haben einen Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Kleinkriminalität künftig "entkriminalisiert" werden soll, so daß Ladendiebstähle, Sachbeschädigungen und fortgesetztes Schwarzfahren einer Einbürgerung sicherlich nicht entgegenstehen werden.

Die Zahl der Einzubürgernden wird durch den Nachzugseffekt noch verstärkt werden. Die eingebürgerten Eltern werden ihre im Ausland lebenden Kinder nachholen und einbürgern lassen, Einbürgerungsberechtigte können die Einbürgerung ihrer selbst (noch) nicht einbürgerungsberechtigten Ehegatten betreiben.

In allen Fällen ist der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nicht an die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit geknüpft. Somit wird die geplante Neuregelung einen doppelten Effekt haben. Die Zahl der Einbürgerungsberechtigten wird vergrößert. Gleichzeitig wird eine bedeutsame psychologische Hürde für den Einbürgerungsantrag beseitigt. Der Einbürgerungswillige kann seine bisherige Staatsbürgerschaft behalten. Er geht durch die Einbürgerung kein Risiko ein, da er nichts aufgibt, sondern nur etwas zusätzlich erhält: die doppelte Staatsbürgerschaft.

In seiner Resolution Nr. 43 hat der Europarat doppelte Staatsbürgerschaften abgelehnt. Die Bundesrepublik Deutschland hat am 29. September 1969 das Mehrstaaterabkommen vom 6. Mai 1963 mit Österreich, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Norwegen und Belgien ratifiziert. Artikel 1 Absatz 1 dieses von den Mitgliedstaaten des Europarates initiierten Abkommens lautet wie folgt:

"Volljährige Staatsangehörige einer Vertragspartei, die (...) durch Einbürgerung (...) die Staatsangehörigkeit einer anderen Vertragspartei erwerben, verlieren ihre vorherige Staatsangehörigkeit; die Beibehaltung ihrer vorherigen Staatsangehörigkeit ist ihnen zu versagen." Für Minderjährige gilt nach Artikel 1 Absatz 2, 3 und 4 dieses Mehrstaaterabkommens grundsätzlich das selbe.

Die Pläne von Rot-Grün widersprechen diesem Abkommen. Jedenfalls müßte sich Deutschland vor entsprechenden Regelungen aus dem Kreis der Vertragspartner durch Kündigung verabschieden und abseits von unseren demokratischen Nachbarstaaten seine Politik weiterverfolgen. Das Völkerrecht will doppelte Staatsbürgerschaften vermeiden.

In Deutschland leben über sieben Millionen Ausländer. Die Zahl der Einbürgerungsberechtigten nach der beabsichtigten Neuregelung in den nächsten Jahren wird auf bis zu vier Millionen geschätzt. Die Zahl ist schwer zu verifizieren. Vermutlich wird sie noch höher liegen. Durch eine völlige Überlastung der Ausländerbehörden werden die Anträge nur nachlässig – das heißt einbürgerungsfreundlich – geprüft werden. Der Nachzugseffekt läßt sich kaum schätzen. Die Zahl der unmittelbar Berechtigten steigt ohnehin von Jahr zu Jahr.

Die Doppelstaater sind – auch – Deutsche. Die jetzt hier lebenden Deutschen werden sich also an den Gedanken gewöhnen müssen, ihre demokratischen und staatsbürgerlichen Rechte mit Millionen von Neubürgern nichtdeutscher Herkunft zu teilen. Jede Rechtsvorschrift, die Rechtsfolgen an die Eigenschaft "Deutscher" knüpft, gilt künftig in gleicher Weise auch für diese Doppelstaater. Insbesondere Wahlrecht und Zugang zu den öffentlichen Ämtern stünden dann den neuen Doppelstaatern offen.

Angehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben zwar bereits jetzt unter bestimmten engen Voraussetzungen das Recht zum Zugang zu öffentlichen Ämtern außerhalb des hoheitlichen Kernbereiches. Die Unionsbürger kommen jedoch aus Ländern, die mit Deutschland auf eine gemeinsame Rechts- und Kulturtradition zurückblicken können. Doppelstaater unterliegen überdies nicht den für Unionsbürger geltenden Schranken sondern sind Deutschen völlig gleichgestellt.

Doppelstaater hätten ein Recht auf Einstellung in alle Bereiche des öffentlichen Dienstes. Dies eröffnet eine neue Dimension: Doppelstaater würden somit künftig an unseren Schulen unsere Kinder unterrichten. Sie würden unsere Steuererklärungen kontrollieren. Doppelstaater könnten in den Ausländerbehörden über Einbürgerungen entscheiden. Sie würden als Polizeibeamte für unsere innere Sicherheit sorgen, und sie würden als Angehörige der Nachrichtendienste deutsche Interessen wahren. Doppelstaater würden als Richter Recht sprechen.

Die Qualität des Artikel 33 Grundgesetz wird durch die doppelte Staatsbürgerschaft völlig verändert. Die Einflußmöglichkeiten und nicht zuletzt auch die Berufsschancen der jetzigen Deutschen vermindern sich. Die Repräsentanten unseres Staates wären als Doppelstaater zugleich auch einem fremden Staat verpflichtet.

Noch gravierender sind die Auswirkungen der doppelten Staatsbürgerschaft auf das Wahlrecht der Deutschen. Doppelstaater werden künftig wie Deutsche wahlberechtigt und wählbar sein.

Die türkische Regierung hat vor der letzten Bundestagswahl eine klare Empfehlung ausgesprochen, wie sich die vergleichsweise wenigen hier bereits eingebürgerten türkischen Staatsangehörigen bei der Stimmabgabe verhalten sollten. Dieses Beispiel könnte künftig sicher Schule machen. Als umworbene Wählergruppe werden die Doppelstaater hinsichtlich der Mehrheitsverhältnisse in künftigen Bundestagen den Ausschlag geben. Doppelstaater sind damit Gesetzgeber für unser ganzes Volk.

Das Gefährliche und zugleich verfassungsrechtlich Bedenkliche an den geplanten Masseneinbürgerungen ist dabei nicht die Tatsache, daß Menschen fremder Herkunft die Möglichkeit erhalten, in unserem Lande in Recht und Freiheit ihr Glück zu versuchen. Dies hat es schon immer gegeben. Die Vielzahl von Familiennamen französischer, italienischer oder slawischer Herkunft mag dies belegen. Zu allen Zeiten haben sich Menschen entschlossen, ihre früheren Bindungen zu lösen und sich in den deutschen Rechts- und Kulturkreis einzufügen. Da sich nie große Gruppen zu einem solch ernsthaften Schritt bereit finden, hat diese Zuwanderung die Integrationskraft des deutschen Volkes nicht überfordert, sondern vielmehr Kunst, Kultur und Wirtschaft bereichert. Auch rechtliche Komplikationen waren nicht zu befürchten. Die Eingebürgerten waren nach der Einbürgerung ganz einfach Deutsche.

Das Tückische an den geplanten Masseneinbürgerungen ist vielmehr neben ihrer Anzahl die Tatsache, daß die deutsche Staatsbürgerschaft mit all ihren Rechten zusätzlich zu der bestehenden Staatsangehörigkeit verliehen werden soll. Die Hintertür in das Erstvaterland bleibt im Zweitvaterland weit geöffnet. Die Doppelstaater gehen nicht das geringste rechtliche Risiko ein. Sie nutzen die Vorteile einer staatlichen Gemeinschaft, ohne ihr persönliches Schicksal mit dieser staatlichen Gemeinschaft zu verbinden. Die politischen Teilhaberrechte der Bürger im freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat werden in die Hände von Menschen gegeben, die sich aus ihren bisherigen nationalen Loyalitäten gerade nicht lösen wollen. Diese Loyalitäten bestehen auch zu Staaten, deren Rechts- und Verfassungsordnungen in keiner Weise dem deutschen Verständnis oder dem Standard unserer Nachbarstaaten in der Europäischen Union entsprechen.

"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." So regelt es das Grundgesetz. Doppelstaater gehören auch zum Volk. Der Satz müßte dann genaugenommen lauten: "Alle Staatsgewalt geht von den Deutschen und den Doppelstaatern aus". Unter "Volk" haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes aber selbstredend das deutsche Volk verstanden. Die Vorstellung, daß zu diesem Volk zugleich Millionen von Bürgern gehören, die zugleich auch noch eine fremde Staatsangehörigkeit haben, war unvorstellbar. Nun wird das deutsche Staatsvolk – entgegen dem Sinn und Zweck dieser zentralen Verfassungsnorm – diese Staatsgewalt mit den Angehörigen anderer Staatsvölker gemeinsam ausüben. Wir beobachten somit den in der Geschichte in dieser Form einmaligen Vorgang einer freiwilligen Teilübertragung der deutschen Staatsgewalt auf Bürger fremder Staaten. Das deutsche Volk als originärer Träger der deutschen Staatsgewalt wird um ausländische Träger der deutschen Staatsgewalt ergänzt.

Deutschland bittet so gleichsam um eine ausländische Mitregierung. Was das heißt, mag das folgende Gedankenspiel verdeutlichen. Zum Beispiel könnte man vorsehen, daß die Angehörigen der zahlenstärksten hier lebenden Nationalitätengruppen eigene Vertreter bestellen, die im Parlament ein Vetorecht gegen alle Gesetzesbeschlüsse haben, mit beschließender Stimme an allen Sitzungen des Bundeskabinetts teilnehmen und im Verfassungsgericht vertreten sind.

Nichts anderes geschieht im Ergebnis, wenn Doppelstaater in gleicher Weise wie Deutsche hier politische Rechte ausüben. Nur die Konstruktion ist feinsinniger. Der Begriff des Deutschen, in Artikel 116 Grundgesetz klar definiert, wird seines materiellen Gehaltes entleert und zu einem rein formalen und daher inhaltsleeren Konstrukt umfunktioniert. Ausländer werden zu Deutschen, ohne ihre Eigenschaft als Ausländer zu verlieren. Das neue Ausländergesetz wird dem Begriff des Deutschen einen Inhalt geben, der von unserer Verfassung nie gewollt war.

Der Nachteil der jetzigen deutschen Staatsbürger wird jedoch nicht nur darin bestehen, daß sie öffentliche Ämter und das Wahlrecht mit Angehörigen anderer Staaten teilen müssen, die die deutsche Staatsangehörigkeit zusätzlich erworben haben. Ein weiterer Nachteil besteht darin, daß sie hinsichtlich des eigenen Staatsangehörigkeitsrechtes künftig schlechter behandelt werden als die Neubürger mit doppelter Staatsbürgerschaft. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht sieht in § 25 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes vor, daß ein Auslandsdeutscher die deutsche Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes verliert, wenn er auf seinen Antrag hin eine andere Staatsangehörigkeit erwirbt. Dabei könnte der zusätzliche Erwerb einer zweiten Staatsangehörigkeit – aus durchaus billigenswerten Gründen – auch für Deutsche attraktiv sein. Man denke nur an einen deutschen Geschäftsmann im Ausland, dessen Arbeit durch dort geltende Beschränkungen für Ausländer beim Erwerb von Grund und Boden oder bei der Gewerbeausübung behindert wird. Die doppelte Staatsbürgerschaft brächte hier einen klaren Wettbewerbsvorteil.

Ein Vorschlag für eine Änderung dieser Vorschrift ist in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung nicht zu finden. Es wird also in der Zukunft so sein, daß zwar Deutschen der Weg zu den Vorteilen des Doppelstaaterstatus verwehrt bleibt, während Ausländern dieser Weg großzügig eröffnet wird. Gleiches wird hier ungleich behandelt, was nicht unserer Verfassung entspricht.

Die doppelte Staatsbürgerschaft in der vorgeschlagenen Form verstößt damit in mehrfacher Hinsicht gegen übergeordnetes Recht:

1. Völkerrecht steht der doppelten Staatsbürgerschaft entgegen.

2. Der Begriff des Deutschen in unserer Verfassung bekommt einen völlig anderen Gehalt. Dies hat gravierende Folgen für den Zugang zu öffentlichen Ämtern und das Wahlrecht.

3. Die Neuregelung schafft eine Ungleichbehandlung zu Lasten der jetzigen deutschen Staatsbürger.

Der erste Gesetzentwurf zur Änderung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes und des Ausländergesetzes darf mit Spannung erwartet werden.


 
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