© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52 u. 53/98  18. Dezember / 25. Dezember 1998

 
 
Kolumne:
Gezeiten-Wechsel
von Klaus Hornung

Martin Walser hat wohl recht, wenn er sagt, viele hätten seine Rede als befreiend empfunden. Die Stunde in der Frankfurter Paulskirche am 11. Oktober 1998 hat begonnen, die Wolken der Stickluft wegzublasen, die seit Jahren immer unerträglicher auf unserem Land lasten. Nun hat selbst Günter Gaus, einer der Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur, in der Süddeutschen Zeitung widerwillig eingeräumt, daß "die Mehrheit im Land, parteiübergreifend, Junge und Alte, seit längerem meint: genug ist genug".

In der Frankfurter Allgemeinen hat der niederländische Publizist Paul Scheffer dieser Tage an prominenter Stelle geschrieben: "Niemand kann darüber erstaunt sein, daß viele Deutsche sich immer weniger bereit zeigen, sich der moralischen Vormundschaft unterzuordnen, die ein nicht zu unterschätzender Teil des Auslandes aus eigenem Interesse gern am Leben halten würde."

Und der neue Bundeskanzler formulierte Mitte November immerhin in einer Regierungserklärung im Bundestag, als ob er aus Manfred Brunners "Bund Freier Bürger" stamme: "Wir wollen keine Politik in Europa fortsetzen, die sich das Wohlwollen der Partner mit Nettozahlungen erkauft." Die praktische Politik muß freilich erst noch zeigen, ob dahinter mehr Populismus steckt, der auf die nächsten Wahlen in Bundesländern zielt.

Nun hat das Institut für Rhetorik an der Universität Tübingen unter der Leitung von Professor Gert Ueding, dem Nachfolger von Walter Jens, Walsers Friedenspreisrede als "Rede des Jahres 1998" ausgezeichnet, "weil sie für die ideologisch verfestigten Meinungsschranken unserer Mediengesellschaft die Augen öffnet" und sich "gegen das organisierte Zerrbild von Gewissen, Moral und Schuldbewußtsein wehrt, das in Grausamkeit gegen die Opfer umschlägt, und schließlich für Vertrauen und Hoffnung in die Zukunft plädiert, ohne die Kraft der Trauer zu schwächen".

Diese Würdigung hat nicht nur Martin Walsers Absicht in treffender Weise formuliert, sondern auch den Finger auf intellektuelle und medienpolitische Übel gelegt, die in der alten Bundesrepubilk in langen Jahren herangewachsen sind und herangezüchtet wurden, aber nun immer deutlicher als Übel empfunden werden. Vielleicht sind wir mit der Berliner Republik doch auf dem Weg zu einem normalen Volk und einem normalen Staat. Die Menschen melden sich dazu jedenfalls immer deutlicher zu Wort.


 
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