© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52 u. 53/98  18. Dezember / 25. Dezember 1998

 
 
Gute Vorsätze
von Dieter Stein

Mit Weihnachten klingt das Jahr harmonisch aus. Die Jahresabschlüsse werden gemacht, alte Rechnungen beglichen, Schreibtische aufgeräumt – man läßt alles hinter sich, was die Monate zuvor an Anstrengung, Mühe, Streit und Belastung mit sich brachten. Wie in der biblischen Geschichte fahren viele von uns kreuz und quer durch Deutschland – nach Hause, meist dort, wo man geboren wurde, und besuchen Eltern und Großeltern. Harmonie lebt von der Wiederholung des Gewohnten: Wie jedes Jahr gibt es (bei uns) nach dem Besuch des Gottesdienstes die Bescherung und danach Bratkartoffeln mit Gemüsesalat zu Heiligabend – wobei jedesmal neu diskutiert wird, ob die Geschenke vor oder nach dem Essen vollständig ausgepackt werden ... Mancher Familienkonflikt wird an Weihnachten beigelegt – oder bricht erst auf. Trotzdem begräbt man zum Jahreswechsel alten Streit und beginnen das neue Jahr mit guten Vorsätzen und neuem Schwung.

Auch politisch werden zum Jahresende so manche Aktendeckel geschlossen. Bis Sylvester endet so mancher Konflikt und erledigt sich von selbst. So trafen sich noch kurz vor den Festtagen Ignatz Bubis und Martin Walser in den Redaktionsräumen einer Zeitung in Frankfurt am Main, um einen "Familienkonflikt" (Dietrich Schwanitz) zu lösen. In einem vierstündigen Gespräch versuchte die einladende Redaktion Mißverständnisse aufzudröseln. Beide – Walser und Bubis – verzichteten aber auf Harmonie um jeden Preis, sondern blieben im wesentlichen stur. So gerne hätten viele Feuilletons ein Happy End und die leidige Debatte über deutsche Vergangenheit und Zukunft beendet gesehen. Nein, der Streit geht weiter, und das ist gut so. Walser warf man vor, er wolle einen Schlußstrich ziehen unter die Vergangenheit. Weder Walser noch Bubis wollen dies. Die wahren Schlußstrichzieher sind vielmehr diejenigen, die unter die deutsche Nation einen Strich ziehen wollen – dem steht dieser Streit aber entgegen.

An Reife gewinnen würden die Auseinandersetzungen in der Berliner Republik, wenn auf Totschlagvokabeln ("Brandstifter", "Antisemit", "Extremist") im Zuge solcher Debatten verzichtet werden könnte. Dem jeweiligen Kontrahenten die Legitimation abzusprechen, sich zu äußern, und ihn aus dem Diskurs auszuschließen, spricht nicht für die demokratische Gesinnung des Betreffenden. Und es ist eine Unsitte, die übrigens nirgends so ausgeprägt ist wie in Deutschland. Sollen wir darauf etwa stolz sein?


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen