© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52 u. 53/98  18. Dezember / 25. Dezember 1998

 
 
LOCKERUNGSÜBUNGEN
Republik des Gesprächs
Karl Heinzen

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold: Der Sonderweg, den die deutsche Geschichte genommen hat, spiegelt sich auch im Sprichwort wider. Hätte man erst einmal darüber geredet, wäre es vermutlich zu vielem nicht gekommen, was heute selbst Unverbesserliche so erschreckt, daß sie es bloß leugnen können. Was müssen all diejenigen gelitten haben, die aus ihrem Herzen eine Mördergrube machten, weil sie dem Lockruf ihres Gewissens mißtrauten? Die zahllosen Autobiographien von Menschen, die erst nach dem Krieg zu sich selbst fanden, lassen nachempfinden, wie auch Täter zu Opfer werden können, wenn sie sich selbst voller Mitgefühl gegenübertreten.

Bonn ist nicht Weimar geworden, nun darf Berlin nicht Berlin werden. Ihren Daseinszweck an der Mündung der deutschen Geschichte wird die Berliner Republik jedoch verfehlen, wenn wir nicht rechtzeitig ein neues Gefühl für den Wert des Gesprächs entwickeln. Politische Ereignisse im eng verstandenen Sinn sind nämlich in den allermeisten Fällen unerfreulich. Immer obsiegt irgend jemand über irgend jemand anderen – und in der Regel sind diejenigen, die den kürzeren ziehen, auch noch in der überwältigenden Mehrheit. Wer dieses Ausschluß- prinzip nicht ertragen kann, wird also an der Politik selten seine Freude finden. So etwas wie eine Wiedervereinigung gibt es schließlich nicht alle Tage, und selbst die kannte, wie wir unterdessen dank einer Nachschulung wissen, Sieger und Besiegte.

Die Beteiligung an der Politik ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Nur Menschen mit einem starken Zug ins Irrationale kann die Statistik nicht davon abbringen, sich dennoch auf das Spiel einzulassen. Dieses Kriterium beim Einstieg in den Politikerberuf erklärt, warum so viele politische Geschehnisse zwar nachträglich künstlerisch gut auszugestalten sind, von den Mitlebenden aber durchaus als leidvoll erfahren werden. Das Gespräch hingegen ist diejenige Form der sozialen Interaktion, in der keine Gedanken an mögliche Folgen den Gegenwartsgenuß vergällen. Man muß es allerdings gescheit zu führen wissen: Versteht man es als ein Instrument zur Wahrheitsfindung, so entfremdet man es nicht nur den Menschen, die es führen, sondern setzt es der Gefahr aus, zur bloß vorübergehenden Hegung einer überdauernden Auseinandersetzung zu degenerieren. Die Herangehensweise hieße jedoch, die Möglichkeiten, die im Gespräch liegen, nicht auszukosten. Das Gespräch schafft nicht den Konsens, es ist der Konsens. Wir werden nicht durch das zusammengehalten, worüber wir sprechen, sondern dadurch, daß wir miteinander sprechen. Wir müssen maßvoll in den Inhalten sein, daß diese uns nicht entzweien, sondern einem Gespräch dienlich sind. Martin Walser hat uns vorgemacht, wie dies geht. Niemand hat so wie er immer dann geredet, wenn es etwas zu reden gab. Er steht zu Recht am Anfang jener Gesprächskultur, die die Berliner Republik sein wird.


 
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