© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52 u. 53/98  18. Dezember / 25. Dezember 1998

 
 
Welternährung: UN-Landwirtschaftsorganisation legte Bericht vor
Geboren, um zu hungern
Bernd-Thomas Ramb

Die Eltern ermahnen ihr Kind, das wieder einmal wegen des vorgesetzten Essens nörgelt: Die Kinder in Afrika wären froh, wenn sie die Hälfte davon essen könnten. Das Kind antwortet trocken: Ich auch! Dieser Kalauer kennzeichnet die ebenso komplexe wie seit Jahrzehnten nahezu unveränderte Situation der Welternährung. Auch der jüngste Bericht der Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) zeigt das sattsam bekannte Bild der Weltaufteilung in reiche Industriestaaten und arme Dritte-Welt-Länder.

2.720 Kilokalorien (kcal) standen nach einer Erhebung in den Jahren 1994 bis 1996 den Menschen täglich im Weltdurchschnitt zur Verfügung. Dieser Durchschnittswert verdeckt jedoch eine Schwankungsbreite, an deren unterem Ende Somalia mit 1.580 kcal liegt, während der Spitzenreiter Dänemark seine Bürger mit 3.780 kcal ernähren kann. Die Hälfte dieses Spitzenwertes wird dabei von den meisten Ländern mit schwerer Lebensmittelknappheit (weniger als 2.000 kcal täglich) noch untertroffen. Zu den ärmsten der Armen zählen vor allem afrikanische Staaten wie Somalia, Eritrea, Burundi, Mosambik und Äthiopien. Aber auch Haiti, Afghanistan und Kambodscha weisen Niedrigstwerte auf.

Fast alle anderen, noch nicht in der untersten Kategorie eingeordneten afrikanischen Staaten werden beim Nahrungsmittelangebot im unteren Bereich eingeordnet, der bis maximal 2.600 kcal reicht. Die meisten Staaten erhalten dabei die Klassifikation "Unter- und Mangelernährung wahrscheinlich". Lediglich Südafrika und die an das Mittelmeer angrenzenden Länder Nordafrikas können ihre Bevölkerung besser ernähren. Mit 2.000 bis 2.300 kcal Mangelernährung müssen aber auch einige latein- und südamerikanische Länder (Guatemala, Peru und Bolivien) sowie mehrere asiatische Staaten (Mongolei, Bangladesh, Sri Lanka) auskommen.

Hungernde Menschen sind nicht nur fernab, sondern auch in der Nähe des satten Westeuropas vorzufinden. So zählen mittlerweile die ehemaligen Teilstaaten Jugoslawiens Bosnien-Herzegovina, Kroatien und Mazedonien sowie Albanien zu den Ländern des unteren Ernährungsbereichs. Die ebenfalls an Unterernährung leidenden Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan liegen auch nicht weit von den europäischen Wohlfahrtsstaaten entfernt.

Im oberen Bereich der Welternährungsskala sind andererseits Staaten vorzufinden, die man so weit oben nicht erwartet hätte. Immerhin gehören neben Dänemark EU-subventionierte Länder wie Portugal, Irland und Griechenland zu den überernährten fünf Spitzenstaaten. Die Türkei liegt an siebter Stelle, noch vor Frankreich und Italien. Die so häufig karikierten Wohlstandsdeutschen belegen dagegen nur Platz 18, weit hinter Malta, Zypern und Ungarn, und selbst die Polen (17) sind besser ernährt als die Deutschen. Die unbestechliche Statistik verweist die Schweizer nur auf Platz 25, die Briten auf Platz 27 und die Niederländer auf Platz 28, hinter Ägypten, das als stärkstes afrikanisches Land Platz 22 erreicht.

Eine wirklich ausgewogene Ernährungsweise ist selten

Die bunte Mischung im oberen Bereich läßt sich teilweise auf die beschränkten Erfassungsmöglichkeiten dieser weltweiten Untersuchung zurückführen. Die FAO berechnet die Ernährungswerte aus der Zusammenführung von heimischer Produktion, dem Saldo aus Import und Export, der Änderung der Vorratshaltung und dem Umfang der ausländischen Nahrungshilfelieferungen. Über den tatsächlichen Verbrauch und das Ausmaß der Lebensmittelvernichtung, über die Qualität des Essens, vor allem aber über die Verteilung innerhalb der betroffenen Staaten ist weniger bekannt.

Zur Qualität der Ernährung kann zumindest gesagt werden, daß in den wenigsten Ländern eine ausgewogene Ernährung vorzufinden ist. Der leichten Überernährung mit Fettstoffen in den satten Ländern mit 35 Prozent der Nahrungsmittel steht eine deutliche Unterversorgung in den Entwicklungsländern mit 15 Prozent Fettanteil gegenüber. Die Empfehlungen der Ernährungswissenschaftler liegen bei 30 bis 35 Prozent. In den Ländern mit Unterernährung besteht die Nahrung zu 62 Prozent aus Getreideprodukten, die wiederum in den ausreichend ernährten Staaten nur einen Anteil von 27 Prozent ausmachen. Die Höchst- und Tiefstwerte der Nahrungsmengen führen dabei ironischerweise zum gleichen Ergebnis. Während die einseitige Unterernährung durch Getreideprodukte zum Hungertod führen kann, leiden die ebenfalls einseitig, aber an Fett Überernährten zu Herz- und Kreislauferkrankungen oder Bluthochdruck mit oft tödlichen Folgen.

Bezüglich der innerstaatlichen Verteilung der Nahrungsmittel hat der Leiter der FAO-Hauptabteilung für Wirtschafts- und Sozialpolitik lediglich zu vermelden, daß selbst in Ländern mit durchschnittlich ausreichender Nahrungsversorgung viele Menschen nicht genügend Geld hätten, genug Nahrung zu kaufen. Aber auch die internationale Verteilung hält die FAO für ungerecht. Die Gesamtmenge an Nahrungsmitteln würde ihrer Ansicht nach ausreichen, die Unterernährung weltweit zu beseitigen. Nach Ansicht von Fachleuten ist dies jedoch eine etwas blauäugige Sicht. Die Umverteilung von Nahrungsmitteln erfordert nicht nur enorme Transportleistungen. Abgesehen von den logistischen Problemen und den Kosten einer solchen Maßnahme kann Nahrungsmittelhilfe nur vorübergehende Erleichterung bieten. Langfristig muß sich jeder Staat selbst ernähren.

Gerade bei den ärmsten der Staaten ist die dazu notwendige wirtschaftliche Entwicklung jedoch jahrzehntelang durch kommunistische oder feudalistische Herrschaftssysteme verhindert worden. Vielfach wurden gerade unter diesen Regimen alte und bewährte Wirtschaftsmethoden zur Verhinderung von Hungersnöten verboten oder verdrängt, beispielsweise in der Sahelzone durch die Abschaffung von Getreidelagern. Marktwirtschaftsfeindliche Ideologien haben zudem die Möglichkeiten wohlstandsvermehrender Produktion und Verteilung anhaltend versperrt und statt dessen Empfängermentalität gefördert. Die moderne Entwicklungshilfe hat dies vielfach erkannt und steuert neuerdings häufiger einen marktwirtschaftlich orientierten Kurs der Hilfe zur Selbsthilfe.

Bei den saturierten Staaten hat sich dagegen eine gänzlich andere Entwicklung zur Bewältigung der Ernährungsprobleme ergeben. Vom Diätfetischismus bis hin zur bewußten Ernährungskontrolle reichen die Ansätze zur freiwilligen Selbstbeschränkung. Dabei bleibt fraglich, ob das Bewußtsein der Unterernährung in anderen Erdteilen nicht nur auf einen vorweihnachtlichen Moralschub beschränkt bleibt und die Lebensform der Überernährung daei weder gesellschaftlich geächtet, noch einer ethischen Betrachtung unterzogen wird.

Geburtenkontrolle löst nicht das Ernährungsproblem

Wissenschaftliche Umfragen haben ergeben, daß 40 Prozent der Schwangeren eine genetisch erkennbare Veranlagung des ungeborenen Kindes zum Übergewicht als ausreichende Indikation für einen vorsorglichen Schwangerschaftsabbruch ansehen. Damit läßt sich vielleicht das Problem der Überernährung lösen. Die Kinder in Afrika sind aber weiter dazu verurteilt, erst geboren zu werden, um dann zu hungern. Der Gedanke an Geburtenkontrolle liegt für manchen auch in diesem Falle nahe, wenn auch nicht aus gentechnischer, so doch aus "sozialer Indikation". Geburtenkontrolle allein hat aber nach aller wissenschaftlichen Erkenntnis und Erfahrung noch nie die Ernährungsprobleme lösen können, die stets auf einer Unterentwicklung der Länder beruhen, wie China beweist, das mit 2.770 kcal mittlerweile auf Rang 74 steht.


 
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