© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52 u. 53/98  18. Dezember / 25. Dezember 1998

 
 
Reportage: Die Bahnhofsmission als Anlaufstelle für Menschen in Not
Die Engel vom Bahnhof Zoo
Karl-Peter Gerigk

Es ist Mittag und zehn Grad unter null. In dem kleinen, sechs Quadratmeter großen, aber beheizten Raum drängeln sich etwa 20 Menschen verschiedener Herkunft und mit unterschiedlicher Erscheinung, um einen heißen Tee oder eine Suppe zu bekommen. Der Obdachlose steht neben der Frau, der man gerade die Geldbörse gestohlen hat, und die deswegen keine Mittel hat, sich in den "Shops" des Bahnhof Zoo einen Kaffee zu kaufen. Auch ein Drogenabhängiger meldet sich und möchte ein Brötchen und sich etwas ausruhen, denn in den glänzenden Hallen des renovierten Gebäudes sind die Drogenabhängigen nicht mehr gern gesehen. Die Service-Mitarbeiter der Bundesbahn drängen die "Penner" und "Fixer" auf die Straße.

"Die Bahnhofsmission ist die Anlaufstelle für alle, die rund um den Bahnhof in einer Notsituation sind", erklärt Giesela Wegemann, die sich seit sechs Jahren um die Menschen hier kümmert. Auch der kleine Junge, der gerade – spät am Abend – den letzten Zug verpaßt hat, erhält Hilfe von ihr. Sie ruft den Kindernotdienst an, bei dem er übernachten kann. Die Mission legt ihm das Geld für ein neues Ticket aus, und er kann wieder nach Hause. Ist jemand über 14 Jahre, bekommt er die Adresse des Jugendnotdienstes in Pankow.

"Er bekommt dann bis Pankow auch einen Fahrschein. Aber wir können nicht jedem die Fahrkarte ersetzten – oder einem Landstreicher, der nur kein Geld für die Weiterreise hat, ein Ticket kaufen –, dazu sind unsere Mittel einfach zu beschränkt", berichtet Frau Wegemann und weiter: "Wir finanzieren uns ausschließlich aus Spenden." Auch das Essen, das mittags ausgegeben wird, ist gespendet. Manchmal sind es Reste von "Caterings" der Reichen. "Da können die Leute einige Tage von schlemmen", so Frau Wegemann. Aber meistens sind es trockene Brötchen vom Bäcker oder auch mal einige Kaffeestückchen. Das muß für vier Mahlzeiten am Tag reichen. Morgens um sechs, mittags um zwölf, abends um sechs und um Mitteracht werden die Bedürftigen mit Nahrungsmitteln versorgt. Die Berliner Tafel, eine Organisation von freiwilligen Helfern, die überschüssige Nahrungsmittel oder auch Reste sammelt und an soziale Einrichtungen verteilt, spendet hier das meiste Essen. Die Weinachtszeit, in der es auch schon mal Lebkuchen für die "Bettler" gibt, ist Reisezeit. Das bedeutet für die Mission aber auch eine Reihe anderer Aufgaben. An den Gleisen selbst gibt’s die meiste Arbeit. Zum Beispiel die Rampe für die Rollstuhlfahrer, die betätigt wird, wenn jemand, der behindert ist, das Gleis wechseln will oder zur U-Bahn muß. Auch beim Aus- und Einsteigen benötigt mancher Hilfe. Oft rufen auch Zugbegleiter an, daß ein Fahrgast desorientiert scheint und psychiatrische Hilfe braucht. Für alle diese Fälle sind die Mitarbeiter der Bahnhofsmission zuständig. Sie nehmen die betreffende Person auf, versorgen sie mit dem Nötigsten und melden den Fall dann dem psychologischen Notdienst, der sich weiter kümmert.

Gearbeitet wird in der Bahnhofsmission in drei Schichten. Frau Wegeman hat zwei Mitarbeiter, die sie anleitet, die auch zum Gleis gehen, um zum Beispiel ein alleine reisendes Kind in den richtigen Zug zu setzen.

Gegründet wurde die Bahnhofsmission vor 104 Jahren in Berlin, als erste in Deutschland, weil der Bahnhofsraum als sozialer Brennpunkt bekannt war. Drei Träger waren es am Anfang: Die Mädchen Sozialarbeit (MSA) von katholischer Seite, die Kaiserswerther Schwestern von evangelischer Seite und der Jüdische Frauenverein. Doch die erste Station war nicht am Bahnhof Zoo, sondern an der Friedrichstrasse und dann am Ostbahnhof. Damals war das Problem ähnlich wie heute. Viele junge Menschen kamen vom Land nach Berlin und mußten erstmal augefangen werden. Da war die Bahnhofsmission schon vor hundert Jahren erster Anlaufpunkt. "Damals haben die kirchlichen Vereinigungen mit Genehmigung der Bahn Plakate aufgehängt, um auf sich aufmerksam zu machen, nach dem Motto: denen mit dem spitzen roten Kreuz kannst du vertrauen", so Frau Wegemann.

Es kommen bis zu 300 verschiedene Menschen in einer Schicht zu Frau Wegemann: "Das sind auch Leute, die einfach Kontakt suchen und bei denen die ’Stütze‘ nicht reicht bis zum Monatsende. Sie wollen reden und sich versorgt fühlen." Eine Frau kam, so schildert die Missionsmutter, am Heiligabend aus über 200 Kilometern Entfernung in die Bahnhofsmission, um sich zu unterhalten. Sie lebt auf einem kleinen Dorf alleine und hat keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. "Deswegen ist unsere Aufgabe so wichtig" – nicht selten führt Vereinsamung zu Selbstmord-Gedanken. "Eine andere Frau kam zu mir und sagte, sie hätte Tabletten genommen. In einem solchen Fall rufe ich sofort das Krankenhaus an. Diese Leute müssen in fachgerechtere Betreuung", sagt Giesela. Die seelsorgerischen Aufgaben machen den besonderen Wert der Tätigkeit des Engels vom Bahnhof Zoo und ihrer Schwestern aus. "Bedauerlich nur, daß die Menschen sich nur im Winter und zur Weinachtszeit für die Not anderer zu interessieren scheinen", sagt Mutter Giesela, die immer für sie da ist. Seit 27 Jahren arbeitete Giesela Wegemann vorher in der Diakonie.

"In der Weihnachtszeit kommt es dann schon mal öfter vor, daß man auf Fragen des Glaubens angesprochen wird. Da kümmere ich mich dann meist selber drum und gehe mit den Betreffenden in eine ruhige Ecke. Aber das ist nicht alltäglich." Ein Festangestellter der Mission vor Ort sein. Darüber hinaus sind es meist zwei ehrenamtliche Mitarbeiter oder auch zwei Zivildienstleistende, welche die Arbeit am Bahnhof, auf den Gleisen und in der Küche leisten.

Auch sehr junge Menschen kommen in die Mission. Dabei scheint es im Alter nach unter kaum eine Grenze zu geben. "Das jüngste Kind, von dem ich weiß, das es auf der Straße lebt, ist neuen Jahre alt", schildert sie. Es ist auch die Aufgabe der Mitarbeiter zu versuchen, zwischen den Straßenkindern und dem Elternhaus zu vermitteln – nicht selten wurde wieder ein Kontakt hergestellt, und so manches Mal sind die Kinder auch wieder nach zu Hause zurückgekehrt. "Aber das ist die Ausnahme." Oft sind sie nach vier Wochen wieder am Bahnhof.

Meistens kommen die Jungs und Mädchen nur in den "Wärmeraum", weil sei kein Geld fürs Essen haben, auch wenn in der Weihnachtszeit der Spruch "Haste mal ne’ Mark" vielversprechender ist. "Manchmal", so schildert Tony, ein Punk aus Berlin, "kannst du an einem halben Tag schon dreißig Mark zusammenbekommen", das reicht fürs Überleben und ist mehr als die Hilfe vom Sozialamt. Ein obdachloser Stadtstreicher erhält an Unterstützung für einen Tag achtzehn Mark. Das genügt gerade, um sich etwas zuessen zu kaufen, aber es ist zu wenig für Kleidung oder Hygieneartikel. "Da brauchst du schon das Brötchen von der "Mutter" aus der Bahnhofsmission", meint Tony.

Im Rahmen der Winterhilfe können die Betroffenen bei der Bahnhofsmission auch erfragen, wo sie übernachten können. Es gibt Notübernachtungsstellen und Nachtcafés, die jedoch nicht jeden Tag geöffnet haben.

Ein solcher Anlaufspunkt ist die "Arche" in Treptow. Sie ist eine Einrichtung vorzugsweise für Obdachlose. Hier bekommt jeder, der fragt, eine warme Mahlzeit. Und zweimal die Woche können die Leute dann dort übernachten. Eine Dusche und eine Waschmaschine gibt es auch für die Menschen, die auf der Straße leben. Nach der Übernachtung gibt es dann auch noch ein Frühstück. Es sind meistens zwischen zwanzig und vierzig Personen, die hier beköstigt werden. Träger dieser Einrichtung ist die evangelische Kirche. Finanziert wird sie größtenteils jedoch von dem Stadtbezirk Treptow. "Doch bleiben wir auf Spenden angewiesen, um unsere Aufgabe auch gut zu erfüllen", berichtet Stefan Boos, Student der Sozialpädagogik und engagiert in der "Arche". Die meisten Mitarbeiter sind hier Studenten und Schüler, die sich in ihrer Freizeit sozial engagieren.

"Der Trend geht dahin, daß mehr sozial Schwächere, also Familien, die von der Sozialhilfe leben, hierhin kommen, um versorgt zu sein, weil das Geld vorn und hinten nicht reicht", erklärt Stefan. Ein Obdachloser, der es geschafft hat, ist Peter Steinbrecher. Durch die Vermittlung der "Arche" und die Hilfsbereitschaft eines Nachbarn hat er seit kurzem eine eigene Wohnung. Seit 1982 war er auf der Straße.

Wenn die "Arche" geschlossen ist, gibt es das "Kältetelefon", durch das ein Betroffener an ein anderes Nachtcafé vermittelt werden kann. Diese Nachtcafés haben eines gemeinsam. Sie sind "niedrigschwellig", das bedeutet, es wird niemandem die Türe vor der Nase zugemacht – ob er nun Alkoholiker und betrunken ist oder schon seit einem Monat keine Seife mehr gesehen hat. Sie werden alle aufgenommen und dürfen dort schlafen. Allerdings gilt diese Regelung nur von November bis etwa April (wegen der Minusgrade). "Es soll nunmal niemand erfrieren". Die Notunterkunft in der Seitelstraße zum Beispiel ist meist, wie die anderen oft auch, hoffnungslos überfüllt. Ein Bus der Stadtmission, der Kältebus, fährt jeden Abend durch Berlin und sammelt diejenigen auf, die es aus eigener Kraft nicht schaffen würden, bis in eine solche Einrichtung zu gelangen. Dabei fährt er allerdings immer andere Touren, damit er auch die wirklichen Bedürftigen antrifft und nicht als billiges Taxi mißbraucht wird. Er fährt auch den Bahnhof Zoo an – aber zu unterschiedlichen Zeiten.

In der Mission am Bahnhof Zoo gibt es auch kostenlose medizinische Versorgung für die Bedürftigen. Hier wird von kleinen Wehwehchen bis zu starken Wunden und Verletzungen vieles behandelt, was ambulant zu regeln ist. Aber auch erste Diagnosen von typischen chronischen Krankheiten können hier für die Armen vorgenommen werden, die dann später im Krankenhaus weiterbehandelt werden müssen. Aber oft sind es kleinere Verletzungen und auch Hautkrankheiten, mit denen die Obdachlosen zu der Ärztin von der Caritas kommen. Eben alles, was das Leben auf der Straße an Krankheiten mit sich bringt. Im Winter sind es auch schon mal Erfrierungen, die behandelt werden müssen. Die gesundheitliche Lage der Armen ist schlecht. Die Ärztin kann auch nicht so ohne weiteres Medikamente zum Beispiel gegen Husten oder Grippe verschreiben, doch die Mittel, die sie da hat, gibt sie ihren Patienten. Sie sorgt aber vor allem dafür, daß chronische Krankheiten auch stationär behandelt werden können, wenn es die Patienten wollen.

Verantwortlich für die Arbeit der Bahnhofsmission ist die Berliner Stadtmission. Dies ist ein gemeinnütziger Verein mit vielen Gemeinden in ganz Berlin und vielen Unterorganisationen, wie der Beraterstelle für Obdachlose oder den Notübernachtungsstellen. Die Unterorganisationen sind oft auch als GmbH organisiert und brauchen Geld, damit sie ihre Arbeit tun können

Die Stadtmission ist bei ihrer Arbeit dringend auf Spenden angewiesen. Berliner Stadtmission, Bahnhof Zoo. Konto: 3181907, BLZ 100 205 00, Bank für Sozialwirtschaft. Oder Arche, Konto: 1543406447, BLZ: 100 500 00 Sparkasse Berlin.


 
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