© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52 u. 53/98  18. Dezember / 25. Dezember 1998

 
 
Walser/Bubis-Kontroverse: Anmerkungen zu einem Dialog
Gewissen braucht Sprache
Baal Müller

Persönliche und gemeinschaftliche Erfahrungen unterscheiden sich nicht so sehr durch die Anzahl derer, die sie machen, als vielmehr durch den zeitlichen Abstand, der zwischen dem Erlebnis und seiner Bewußtwerdung liegt. Im ersten Falle ist diese Reflexion nicht unbedingt nötig: das Gefühl ist im Moment der Wahrnehmung zugleich ein Wissen seiner selbst. Mit dem kollektiven Erleben eines womöglich historischen Ereignisses stellt sich die Erkenntnis nicht unmittelbar ein; sie bedarf der rückschauenden Distanz. Das bloße Erlebnis impliziert kein Wissen, so wie durch letzteres kein wirkliches Erleben hervorgerufen werden kann – auch und gerade dann nicht, wenn man es unendlich oft wiederholt.

Dieses Dilemma zeigt sich auch nach dem Gespräch der beiden Kontrahenten, die seit Wochen angeblich über die richtige Auslegung einer Rede streiten: eine Verständigung ist nicht in Sicht; das Thema kann höchstens (und wird demnächst auch) ad acta gelegt werden. Wohlgemerkt, die Walser-Rede, nicht Auschwitz oder die deutsche Vergangenheit! Darüber wird auch in 50 oder 100 Jahren zu sprechen sein; hoffentlich mehr von kompetenten Historikern und weniger von persönlich oder hauptberuflich Betroffenen.

Ignatz Bubis – das muß ausdrücklich festgestellt werden – gehört zu den persönlich Betroffenen. Es ist daher verständlich, wenn auch wenig hilfreich, daß er im Gespräch mit Walser von ermordeten Familienangehörigen spricht. Es ist ebenfalls verständlich, wenn er deshalb und aufgrund seiner Funktion als Zentralratsvorsitzender der Juden in Deutschland in die Rolle eines moralischen Inquisitors gedrängt wird – die er jedoch allzu gut beherrscht. Das große Foto in der FAZ vom 14. Dezember sagt hierzu mehr als die drei Seiten Gesprächsprotokoll: Bubis lehnt sich mit erhobenem Zeigefinger im Sessel zurück, während Walser ihm weit vorne auf der Sesselkante mit abwehrend erhobener Hand gegenüber sitzt.

Schließlich ist es ebenfalls noch verständlich, daß Bubis die Rede des Dichters so gründlich mißverstanden hat. Zwar ist diese Rede glasklar und wurde nicht zuletzt wegen ihrer "schlüssigen Argumentation" vom Tübinger Seminar für Allgemeine Rhetorik zur "Rede des Jahres 1998" gekürt; jedoch ist das Unverständnis eines Betroffenen, der selbst zugibt, nur ein Buch über den Nationalsozialismus gelesen zu haben, eben aufgrund dieser Betroffenheit glaubwürdig.

Anders verhält es sich mit den scheinheiligen Nichtwissern, die eine "Klarstellung" verlangen, wen Walser mit seinem Vorwurf der Instrumentalisierung von Auschwitz gemeint habe, mit den angeblichen Naivlingen, die allen Ernstes behaupten, Walser beziehe sich damit auf die Schadensersatzforderungen ehemaliger Zwangsarbeiter.

Gerade die Bußprediger, Meinungssoldaten und Keulenschwinger rufen so laut nach dem öffentlichen Beichtstuhl, wie sie sich in ihrer medialen Vormachtstellung angegriffen fühlen. Auch manche leitartikelnden Berufshinseher, die Walser unterstellen, er klage "ein Recht auf Wegsehen" ein (Die Zeit), dürften seine Rede besser verstanden haben.

Der Friedenspreisträger spricht nirgends von einem solchen Recht, wegsehen zu dürfen, sondern von einem Zwang, angesichts der unaufhörlichen Präsentation der Schande wegsehen zu müssen. Er fordert – wie aus seiner Rede eindeutig hervorgeht – nicht, den berüchtigten Schlußstrich zu ziehen und liefert denen, die glauben, ihm dafür Beifall spenden zu sollen, keinesfalls das intellektuelle Vorbild, sondern er sucht gerade das Hinsehen neu zu kultivieren. Dabei beruft sich Walser auf das private und individuelle Gewissen, das er als frei und autonom im Sinne der neuzeitlichen Subjektphilosophie begreift.

Um diese moralische Instanz, die in seinen Augen durch öffentliche Gedenkrituale und Betroffenheitskundgebungen nicht gefördert und ausgebildet, sondern nur blockiert und verstellt wird, geht es dem Schriftsteller. Allein die literarische Sprache, die "nichts verkaufen", sondern beschreiben, entdecken, evozieren will, hält er aufgrund ihrer Offenheit, die verschiedene Deutungen zuläßt, für fähig, die Verschlackungen und Verkrustungen der Meinungsindustrie aufzubrechen. Die Individualität des Gewissens bedarf einer noch zu schaffenden "neuen Sprache der Erinnerung" und damit einer neuen Kultur des Gedenkens, die den Schrecken unter der allgemeinen Phraseologie namhaft macht.

Hier hätte eine ernstzunehmende Kritik anzusetzen: Anstatt von angeblichem unverzeihlichen Wegschauen zu faseln, hätte sie zu zeigen, daß eine solche radikale Autonomie des moralischen Selbst unmöglich ist. Sie hätte zu argumentieren, daß jegliche Verlautbarung des Gewissens der tradierten und damit korrumpierten Sprache bedarf, wenn nicht das Gewissen ein bloßes sprachliches Gefühl bleiben soll.

Walser selbst ist sich dieser Problematik allerdings bewußt. Seine Rede ist durchgehend reflexiv; sie handelt vor allem von ihrer eigenen Unmöglichkeit, die darin besteht, eine dem tatsächlichen Gefühl angemessene Sprache im überkommenen Genre der moralischen Sonntagsrede zu finden. Philosophen sprechen in solchen Fällen von einem "performativen Widerspruch", das heißt von einem solchen, der gerade in seiner Äußerung besteht (im Unterschied zum logischen Widerspruch, der ohne jede Verlautbarung schon Undenkbarkeit impliziert).

Unsinnig ist eine solche selbstwidersprüchliche Rede jedoch keineswegs; gerade indem sie nämlich ihr eigenes Scheitern als Festrede ausstellt, verweist sie auf die Brüchigkeit des Diskurses, in den sie eingebettet ist. Ihr Ziel ist, daß der Zuhörer hinterher weniger über den Redner weiß, also das vergißt, was er eigentlich erwartet hat, und statt dessen "vertrauter" wird mit ihm und seiner persönlichen Problematik.

Walser hat dieses Ziel nicht verfehlt: viele, die das Gewohnte vermißten, "erkannten ihn nicht wieder" (wie der israelische Botschafter), und einige verstanden ihn besser. Ob freilich das Ziel, dem Gewissen eine neue Sprache zu schaffen, erreichbar ist, muß dahingestellt bleiben. Wenn dies nicht möglich ist, darf jedoch immerhin gehofft werden, daß die Geschichte den Menschen um so stärker ergreift, je mehr die Indoktrination nachläßt.

Der Dichter Stefan George überliefert in diesem Sinne eine Anekdote: Einer seiner Schulkameraden habe eine ganze Nacht lang geweint, nachdem er vom Untergang Karthagos erfuhr. Offenbar bedurfte seine Betroffenheit keiner Anweisung, und wenn manch einer jetzt einwendet, die Punischen Kriege seien lange vorbei und nur ein Detail der Geschichte, darf er sich glücklich schätzen: Er wird nicht bestraft.


 
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