© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52 u. 53/98  18. Dezember / 25. Dezember 1998

 
 
Konsens und Konflikt
von Klaus Kunze

Die offene politische Auseinandersetzung zwischen gesellschaftlichen Interessen hat keine gute Tradition in Deutschland. Lieber verschanzt man sich hinter seinem vermeintlichen guten Recht und versucht, seinen Konkurrenten auf die Anklagebank des Strafrichters zu setzen. In Kerker wanderten im Vormärz des 19. Jahrhundert als "Demagogen" die demokratischen Gegner landesfürstlicher Kleinstaaterei. Dorthin folgten ihnen im Dritten Reich der "Klassenhetze" (§ 130 StGB alte Fassung) überführte Kommunisten. Und dorthin können inzwischen wandern, die politisch an der Idee des deutschen Volkes als Abstammungsgemeinschaft mit einem ius sanguinis festhalten möchte. Doch wie das – haben wir keine Meinungsfreiheit?

Nicht mehr unbedingt: Nach § 130 StGB neue Fassung macht sich heute wegen Volksverhetzung strafbar, wer etwa zum Haß gegen Bevölkerungsteile aufstachelt oder sie böswillig verächtlich macht. Das klingt vernünftig, ist aber Auslegungssache: Mit dem Generationenwechsel von rechtsstaatlich denkenden, politisch neutralen Richtern zu politisch motivierten Richtern werden Vorschriften zunehmend als Gummiparagraphen für eine Gesinnungsjustiz mißbraucht, die sich noch nicht einmal mehr den äußeren Anschein der Subsumtion einer Tat unter einen gesetzlichen Tatbestand gibt. Nehmen wir einen heiklen Fall: Am 23. November 1998 verhandelte das Amtsgericht Meschede gegen einen jungen Mann, dessen Wohnung der Staatsschutz durchsuchte, "weil man rechtsextremistisches Material" vermutete. Man fand Aufkleber mit der Parole: "Rassismus ist Notwehr eines Volkes". Nun ist über die Einfalt solcher Lösungen kein Wort zu verlieren, doch stachelt diese nicht zum Haß gegen irgend einen bestimmten Bevölkerungsteil auf. Jeder darf etwa Apartheid für richtig oder für "Notwehr" erklären.

Niemand sage nun: Was kümmert’s mich, wenn ins Gefängnis geht, wer solchen Unsinn redet?! Für eine Hausdurchsuchung reicht es heute nämlich schon, daß "rechtsextremistisches Material" vermutet wird, dies ist ein Problem. Und unter dem Vorwand des "strafbaren Rassismus" lassen sich auch ernsthaftere Diskussionsbeiträge zur Einwanderungsproblematik staatlich unterbinden, als dies ein dümmlicher Aufkleber ist. Als "Rassismus" bezeichnen manche Autoren wie Christoph Butterwegge schon das "staatliche Macht- und Gewaltverhältnis mit Ausländergesetzen und Abschieberegelungen". Wie lange dürfen wir das geltende Verfassungsrecht mit seinem Abstammungsprinzip noch verteidigen, ohne uns dabei als "Rassisten" strafbar zu machen?

Die strafrechtliche Verfolgung einer nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht strafbaren Meinung ist aber kein Einzelfall, sondern hat zunehmend System. Die Opposition und der Wortlaut des Grundgesetzes halten daran fest, daß das Staatsvolk der Deutschen Träger von Staat und Verfassung ist. Das deutsche Volk ist der "Demos" (Staatsvolk) im Sinne unserer Demokratie als Staatsform. Seit der letzten Bundestagswahl sind die parteipolitischen Vertreter der entgegengesetzten Meinung zur Regierung gekommen: Manche wollen das als Abstammungsgemeinschaft begriffene deutsche Volk aus ideologischen Gründen in eine multikulturelle Bevölkerung transformieren. Andere geben sich pragmatisch und meinen, der faktischen Einwanderung müsse durch eine Änderung des Verfassungsverständnisses Rechnung getragen werden. So will man bei der Staatsangehörigkeit das ius sanguinis (Abstammungsprinzip) aufgeben und die Staatsangehörigkeit kraft Geburtsort in Deutschland verleihen (ius soli).

Um den Staat der Deutschen, festgeschrieben im Grundgesetz, vollends in eine multikulturelle Gesellschaft zu überführen, müßten alle Anknüpfungspunkte an das deutsche Volk und die von ihm ausgehende Staatsgewalt aus der Verfassung gestrichen werden. Dahin geht die Tendenz. In einem ersten, noch bloß weltanschaulichen Schritt soll die Vaterlandsliebe durch Verfassungspatriotismus ersetzt werden. In einem zweiten Schritt muß die Verfassung erst uminterpretiert und schließlich geändert werden: Politikwissenschaftler wie Dieter Oberndörfer vertreten bereits die Meinung, wo das Grundgesetz an die deutsche Volkszugehörigkeit anknüpfe, handele es sich um "verfassungswidrige Verfassungsnormen" im Grundgesetz – verfassungswidrig nämlich im Lichte eines multikulturellen ideologischen Vorverständnisses. Solche Verfassungsnormen müßten abgeschafft werden, "um eine zivilisierte Einwanderungsgesellschaft zu ermöglichen". Nun mag das meinen und im demokratischen Meinungsbildungsprozeß durch Abstimmung durchzusetzen versuchen, wer mag.

Ein schleichender Verfassungsputsch droht aber, wo der ideologisch erwünschte Abschied vom deutschen Volk nicht durch den Verfassungsgeber, sondern durch juristische Künste der Uminterpretation vollzogen werden soll. In Christiane Hubos von Hans-Helmut Knütter in der JF 48/98 rezensierter Dissertation beim Staatsrechtler Helmut Quaritsch in Speyer wird vor der begriffstechnischen Veränderung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gewarnt: Über Bewußtseinsformung und strafbewehrte Verhaltenssteuerung mit staatlichen Mitteln werde ein neues Herrschaftssystem vorbereitet. Vertreter des Status quo der Verfassung und nachgeordneter Gesetze zur Staatsangehörigkeit und zur Stellung von Ausländern würden als Feinde der Verfassung deklariert. Dagegen bedürfe die Umwandlung in eine multikulturelle Gesellschaft eines gesellschaftlichen Konsenses und der demokratischen Legitimierung durch das Staatsvolk.

Doch eine offene politische Auseinandersetzung findet nicht statt. Statt ihrer werden die Vertreter des verfassungsrechtlichen Status quo erst ideologisch als rechtsextrem verdächtigt und – aus der Deckung juristischer Uminterpretation des geltenden Rechts – als Verfassungsfeinde oder bereits schon als Straftäter verfolgt. Wer dagegen mit gleicher Münze – formal juristisch – kontern wollte, dürfte mit Hubo auf die Verfassungsfeindlichkeit solcher Bestrebungen hinweisen: "Wenn man das Zerfließen von Staat und Gesellschaft im Parteienstaat berücksichtigt und bedenkt, daß der Personenverband der Deutschen der Träger demokratischer Staatsgewalt ist, sich das staatliche Gemeinwesen im Zusammenwirken von Staat und Gesellschaft jeden Tag neu konstituiert, und das deutsche Volk nach dem körperlichen Staatsbegriff mit dem Staat identisch ist, bedeutet dies, daß durch die geförderte Heterogenisierung des Staatsvolkes zum einen die Identität des Volkes als Träger des Staates und daraus folgend auch der Staat in seiner geschützten Identität als bestehender Staat zerstört wird. An seine Stelle träte dann ein neuer Staat mit einem neuen Volk als Träger der Staatsgewalt. Dies alles ohne die Zustimmung durch die verfassungsgebende Gewalt des (bestehenden) Volkes dürfte letztlich auf eine Zerstörung der jetzt verfassungsmäßigen Ordnung hin sich entwickeln."

Nicht bekannt war der im Juni 1998 promovierten Akademikerin Hubo, daß die von ihr bloß abstrakt gesehene Gefahr der "sanktionsbewehrten Verhaltenssteuerung mit staatlichen Mitteln in ein neues Herrschaftssystem" bereits Gegenstand konkreter Prozesse im juristischen Alltag ist. So vertritt das Land Rheinland-Pfalz bereits offen die Position, es sei ein Verfassungsfeind, wer gegen die multikulturelle Gesellschaft argumentiert. Vom VG Mainz war das Land verurteilt worden, die Republikaner nicht mehr mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu beobachten. In seiner Berufung vom 4. September 1998 rechtfertigt es, was Christiane Hubo als "Transformation des Staates durch Verfassungsschutz" bezeichnete. Anders als es der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entspricht, erklärte das Land, müsse man in den Text des Grundgesetzes heute schon mehr hineininterpretieren: Freiheitliche demokratische Grundordnung bedeute heutzutage eine Verfassungsordnung, in der Menschen unterschiedlicher Kulturen zusammenleben. Wer die Tendenz zur multikulturellen Gesellschaft ablehne, sei nach diesem neuen Verfassungsverständnis ein Verfassungsfeind.

Auch nach jahrzehntelanger Meinungsfreiheit und scheinbarer Aufklärung genügt es heute in Deutschland ebensowenig wie früher, Interessen offen einzufordern. Die Heimatvertriebenen verschanzten sich hinter Rechtsargumenten, bis sie als und grau darüber wurden. Daß das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 juristisch fortexistierte, fehlte damals in keiner Diskussionsrunde. Daß sich die Realität aber nicht nach dem Recht richtet, sondern das Recht der Realität nachfolgt, verstanden sie ebensowenig wie heutige Kontrahenten in der Ausländerdebatte. Sieben Millionen Ausländer in Deutschland sind heute eine solche Realität. Dieser offene Interessenkonflikt muß politisch diskutiert und entschieden werden. Statt dessen verschanzt jede Seite sich hinter ihrem jeweiligen "Recht" und sucht den Gegener als ideologischen Bösewicht zu verketzern. Ähnliche Konflikte gibt es etwa auch in den USA. Jenseits unserer neurotischen Verklemmtheiten werden sie dort als Interessenkonflikte mit den Mitteln des demokratischen Rechtsstaates offen ausgetragen und gelöst. Auch wir sollten ohne staatliche Meinungslenkung und strafrechtliche Kontrolle auskommen.


 
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