© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/00 24. Dezember / 31. Dezember 1999


Weihnacht: Von der Erfahrung der Erneuerung des Weltvertrauens
Das Kind als Erlöser
Karlheinz Weißmann

Sehen Sie", sagte er, "da strömt die Quelle, aus welcher die Kinderwelt ihr erstes Christentum schöpft! Nicht dadurch, daß man ihnen von Gott und so weiter Unverständliches vorräsoniert, sie Bibel- und Gesangbuchverse auswendig lernen läßt, nicht dadurch, daß man sie – womöglich in Windeln – in die Kirche schleppt, legt man den Keim der wunderbaren Religion in ihre Herzen. An das Gewühl vor den Buden, an den grünen, funkelnden Tannenbaum knüpft das junge Gemüt seine ersten, wahren – und was mehr sagen will, wahrhaft kindlichen Begriffe davon." So läßt Raabe in seiner "Chronik der Sperlingsgasse" den Zeichner Strobel zum Chronisten Wachholder sprechen, als die beiden mit dem Mädchen Elise über den Weihnachtsmarkt der Stadt ziehen. Es ist in der Schilderung und in diesen Sätzen viel 19. Jahrhundert, aber auch etwas, wonach wir bis heute Sehnsucht haben. Das Friedvolle, das Harmonische, das Besondere der familiären Atmosphäre, alles was, wenn schon nicht erfüllt, so doch erhofft wird für Heiligabend und die folgenden Festtage.

Aber dabei wollen wir uns nicht aufhalten, auch nicht bei der ebenso wahren wie vordergründigen Feststellung, daß Weihnachten ein Fest der Kinder ist, weil es Geschenke gibt und Nascherei. Hier soll es um Strobels Satz gehen von Weihnachten als der Quelle, "aus welcher die Kinderwelt ihr erstes Christentum schöpft". Was macht das Kindgerechte an Weihnachten aus? Was führt dazu, daß Weihnachten, trotz aller begründeten Vorbehalte der Theologie das eigentlich populäre, das im wohlverstandenen Sinn volkstümliche christliche Fest ist?

Die Geburt eines kleinen Menschen ist etwas Großes

Wodurch wird seine Botschaft so eingängig, daß damit weder Ostern noch Karfreitag vergleichbar sind, deren Bedeutung für das Dogma ungleich schwerer wiegt? Der Grund ist das Einfache der Weihnachtsbotschaft. Der Grund liegt darin, daß auch dem Kind schon verständlich ist, was die Geburt bedeutet, selbst wenn von dem Geborenen etwas so schwer verständliches gesagt wird wie, daß in ihm der "Heiland" gekommen sei.

Daß die Geburt eines kleinen Menschen etwas Großes ist, daß sie sich nicht nur für die Eltern mit einem Gefühl der Freude und der Erneuerung des Weltvertrauens verknüpft, gehört zu den allgemeinen Erfahrungen, jedem zugänglich, der nicht stumpf ist, unabhängig von Zeitumständen, von geographischer Lage, von Kultur, von Glaubensüberzeugung. Und man kann noch einen Schritt weiter gehen: das gerade geborene Kind ist auch ein Archetypus, ein Urbild, das deshalb keiner Erklärung bedarf, das sich wie selbstverständlich mit bestimmten Vorstellungen verbindet, so daß selbst der Verlust von religiösen Bezügen es wenig beeinträchtigen kann. Noch Nietzsche war berührt von dem Bild des kosmischen Kindes, das in der ewigen Wiederkehr die Unschuld des Neubeginns symbolisierte, das Wesen, das – gerade zur Welt gekommen, ohne alle Erinnerung – keinen Willen hat, sondern einfach ist.

Es handelte sich bei Nietzsche um einen Gedanken, der im Kern nicht weit entfernt war von den alten Überlieferungen, in denen vom Retterkind erzählt wurde, das am Ende der Zeiten kommt und einen neuen Äon heraufführt. Mythen dieser Art gab es in sehr vielen Religionen, angefangen beim Sohn der sumerischen Himmelskönigin Ischtar über den zweiten Horus, den die Ägypter erwarteten, und den "König der Elemente", den die keltische Madonna mit der Krone aus Eichenlaub gebären sollte. Bis in die Artus-Sage und die Geschichte von Parzival, der, verborgen im Wald, nur von seiner Mutter großgezogen, als "reiner Tor" in die Welt ging, um den Gral zu suchen, finden sich entsprechende Motive.

Häufig ist mit der Vorstellung vom Erlöserkind die Idee der jungfräulichen Mutter verbunden. Der Gedanke der Virginität steht natürlich in Spannung zu dem der Mutterschaft, bringt hier aber das Wunderbare der Geburt zum Ausdruck, die kein natürlicher Vorgang mehr ist, sondern eine Neuschöpfung. Ein berühmtes Beispiel für den Zusammenhang bietet die vierte Ekloge der "Bukolia" des römischen Dichters Vergil, in der es heißt: "Endzeit ist schon da, sibyllinischen Sanges Erfüllung;/ Groß aus Ursprungsreine erwächst der Jahrhunderte Reigen./ Schon kehrt wieder die Jungfrau, kehrt wieder saturnische Herrschaft,/ Schon wird neu entsandt ein Sproß aus himmlischen Höhen./ Seit der Geburt nur des Knaben, mit dem die eiserne Weltzeit/ Gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt." Der Text entstand um 40 v. Chr. und wurde später oft auf Augustus bezogen. Für die alte Kirche war aber die Analogie zu den Weihnachtsevangelien bedeutsam.

Das Wunder der göttlichen Fleischwerdung

Bedeutsam, nicht beunruhigend, denn die Gemeinde sah in der Parallele zwischen ihrem eigenen und dem heidnischen Zeugnis nur einen weiteren Fingerzeig Gottes, der sich auch unter den Völkern Menschen als sein Werkzeug gesucht hatte. Die Sibylle hatte nur auf eine andere Weise als der Prophet des Alten Testaments vorausgesagt, was geschehen würde. Augustinus meinte über die Präfigurationen der christlichen Botschaft: "Was man gegenwärtig christliche Religion nennt, bestand schon bei den Alten und fehlte nicht in den Anfängen des Menschengeschlechts, bis Christus im Fleische erschien. Von da an erhielt die wahre Religion, die schon vorher vorhanden war, den Namen der christlichen Religion."

Es blieb das vorchristliche Christentum aber gebunden an eine Weltanschauung, in der die Geschichte eigentlich keine Bedeutung hatte, es sei denn eine bedrohliche. Die Vorstellung vom linearen Ablauf der Zeit blieb ihr fremd, solange die Lehre vom Gott, der in der Geschichte handelt und sich in der Geschichte offenbart, nicht verstanden worden war. Nicht die Inkarnation Gottes in einem Menschen war den Heiden anstößig, sondern der Gedanke, daß es sich um die "Fleischwerdung" handelte: einmalig, unwiederholbar, historisch festgelegt, an einem Ort, zu einer Zeit geschehen. Das ließ sich nur denken im Zusammenhang jener Erlösererwartung, die aus der jüdischen Tradition stammte.

Die Vorstellung von einem Messias war in Israel weithin konventionell, das heißt, die meisten Juden hofften auf den "Gesalbten" als einen neuen David, einen von Gott gesandten Heros und König, der die Feinde des Volkes vertreiben und vernichten würde, um die Herrschaft Israels aufzurichten. Daneben bestanden allerdings auch Traditionen, die sich mit solchen Gedanken schwer vereinbaren ließen: vor allem die Gestalt des "leidenden Gottesknechts", wie sie sich beim zweiten Jesaja findet, widersprach der verbreiteten Auffassung, aber auch die Idee des messianischen Kindes. Schon in den Geschichten von Isaak und Mose fanden sich Anklänge an das Motiv – von der Unwahrscheinlichkeit der Geburt über die Bedrohung in der Kindheit, die Zeit der Prüfung bis zur entscheidenden Tat –, aber wichtiger für das Christentum wurde die dunkle Verheißung, die Matthäus in seiner "Weihnachtsgeschichte" ausdrücklich zitiert, wenn er sich auf den Propheten beruft, der gesagt hatte: "Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben."

Als Jesaja in der ersten Hälfte des 8. vorchristlichen Jahrhunderts seine Botschaft König Ahas überbrachte, der sich von seinen Feinden in Jerusalem belagert fand und alle Hoffnung, auch alle Hoffnung auf Gott, hatte fahren lassen, kündigte er ihm ein "Zeichen" an: eine junge Frau werde schwanger und einen Sohn gebären, und bevor dieser lerne, gut und böse zu unterscheiden, würden die Feinde des Königs von einem mächtigeren vernichtet sein. Das Wort des Propheten ging in Erfüllung: Assur schlug die Kleinkönige von Damaskus und Nordisrael, Juda wurde noch eine Schonfrist eingeräumt. Über die junge Mutter und ihr Kind wissen wir nichts. Aber im jüdischen Verständnis der Prophetie war das ohne Belang. Die Worte des Propheten konnten sich außerdem immer wieder und immer neu erfüllen, und wenn Matthäus sie in seiner Zeit auf Jesus bezog, dann tat er das in Übernahme eben dieses Verständnisses, mit dem er, der schriftgelehrte Jude, der sich zum Christentum bekehrt hatte, großgeworden war: Schon das neugeborene Kind der Maria war für ihn erkennbar der von Gott seinem Volk verheißene Erlöser und der Christus der Völker, als deren Stellvertreter die Weisen aus Morgenland kommen.

Ein Stück Tradition wird überall erkennbar sein

Im traditionellen Verständnis des Christentums erfüllt sich mit der Geburt Jesu beides: die Menschheitshoffnung und die Messias-Erwartung Israels. Um zu zeigen, wie stark beides zusammenwirkt, sei noch auf die eigenartige Vision im 12. Kapitel der Offenbarung hingewiesen, wo der Seher Johannes schreibt, er habe eine Frau am Himmel gesehen, "mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen", die einen Sohn gebar, der von Satan bedroht wird, aber fliehen und sich retten kann. Es folgt die Schilderung des Michaelskampfes und dann das letzte Gefecht zwischen Christus und dem Feind, das mit dessen Vernichtung endet. Hier wird das Christentum ganz als "absolute Religion" aufgefaßt, die in sich die heidnische wie die jüdische Überlieferung aufnimmt und vollendet.

Es kann das nicht jeder glauben, aber darauf kommt es auch nicht an. Zu Weihnachten werden die Menschen sich wieder in den Kirchen drängen, dann mag die Gemeinde aus Bornierten bestehen, der Chor kläglich versagen, der Geistliche seine Aufgabe nicht begreifen – irgendein Stück der Tradition wird überall erkennbar sein, etwas von dem Glücksgefühl, das Martin Luther in einem seiner zahlreichen schönen Lieder so ausgedrückt hat: "Des ewgen Vaters einig Kind, jetzt man in der Krippen find; in unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewig Gut. Kyrieleis."

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat in Göttingen.


 
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