© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/00 24. Dezember / 31. Dezember 1999


Namibia: Zu Besuch in der ehemaligen deutschen Kolonie Südwestafrika
"Es gibt Rassismus gegen Weiße"
Matthias Lehmann

Manches ist deutscher als in Deutschland. Auch 84 Jahre, nachdem das Reich die Kolonie Südwestafrika (SWA) verloren hat, sind die Spuren der relativ kurzen deutschen Herrschaft nicht verwischt. Die Briten, die die Kolonie schon 1915 übernahmen und später unter die Herrschaft Südafrikas stellten, sind mit der Vergangenheit des kontinentalen Rivalen sensibel umgegangen.

Die meisten der 30.000 Deutschen, die heute noch in Namibia leben, haben Deutschland noch nie gesehen. Dennoch sind sie gut informiert über die ferne Heimat. Die Allgemeine Zeitung erscheint täglich und hat dpa abonniert. Da zwischen Deutschland und Namibia nur eine Stunde Zeitunterschied herrscht (zur mitteleuropäischen Sommerzeit laufen die Uhren sogar identisch), wird man jeden Tag aktuell informiert. Der Fall Holzmann und Kohls Spendenaffäre fanden dort genauso große Beachtung wie in Deutschland. Zum Wochenende erscheint die Anzeigenzeitung Plus. Kürzlich brachte das Blatt einen Artikel über das geplante Kunstwerk für den Reichstag "Der Bevölkerung" als Aufmacher auf der Titelseite. Überschrift: "Was die deutsche Seele bewegt – Korrektur der Widmung: ‘Dem Deutschen Volk’". Mit entsprechender Empörung wurden die Pläne kommentiert. Während die Konterkarierung der Reichstags-Widmung in Deutschlands Medien kaum beachtet wurde, brachte eine namibische Zeitung den Fall an prominentester Stelle. Ein Beispiel, das viel darüber aussagt, wo die "deutsche Seele" wirklich noch lebt. Das Satelliten-Schüssel-System "Deu-Com" bringt zudem ARD, ZDF, SAT.1 und RTL ins Haus. Mit der Ausstrahlung der Fußball-Champions-League auf tm 3 sind die Namibier, die fast alle große Bundesliga-Fans sind, nicht einverstanden. "Wer denkt dabei eigentlich an uns?" fragt Sepp Müller, der in einer Autovermietung arbeitet. Auch die Frage, ob die Deutschen politisch verrückt geworden seien, wird immer wieder gestellt. Denn mit der antinationalen Politik Deutschlands können die Südwester wenig anfangen.

Sam Nujoma ist kein Freund der Deutschen

Wer nach Südwest fliegt, landet in Windhoek, der Hauptstadt des seit 1990 unabhängigen Namibias. Eines der Wahrzeichen der im Jugendstil erbauten Stadt ist das Reiterdenkmal. Es zeigt einen deutschen Schutztruppler hoch zu Roß. Direkt daneben steht die Christuskirche, in der bis heute ausschließlich deutschsprachige Gottesdienste stattfinden. Fast über die gesamte Länge des Kirchenschiffes zieht sich eine schwarzmarmorne Tafel, auf der die Namen von Hunderten Deutschen eingemeißelt sind. Am Kopf dieses beeindruckenden Monuments steht die Widmung in Versalien: "Den seit Errichtung der deutschen Schutzherrschaft für Kaiser und Reich gefallenen Kameraden sowie den seit dieser Zeit für das Schutzgebiet um das Leben gekommenen deutschen Bürgern, Frauen und Kindern zum ehrenden Andenken gewidmet von der Schutztruppe und der Bevölkerung dieses Landes."

Unmittelbar hinter der Kirche steht das Gebäude, in dem der Präsident residiert. Die Deutschen, die nach Südwestafrika ausgewandert waren, gaben ihm noch zu Kolonialzeiten den Spitznamen "Tintenpalast". Denn ihre Hoffnung, auf dem schwarzen Kontinent der preußischen Bürokratie zu entgehen, wurde enttäuscht. Ein Antrag jagte den nächsten, und die deutschen Beamten verschrieben literweise Tinte. Schon hatte der Palast seinen Namen weg und hat ihn bis heute behalten.

Heute sitzt Sam Nujoma im Tintenpalast. Der SWAPO-Politiker ist am 1. Dezember mit einer Dreiviertel-Mehrheit in seinem Amt bestätigt worden. Der 70jährige, für den die South West Africa People’s Organisation (SWAPO) gar die Verfassung änderte, damit ihm eine dritte Amtszeit möglich war, ist kein Freund der Deutschen. Er bezeichnet sie als "Siedler", die das Land wieder verlassen sollten. Mit "ausländerfeindlichen" Parolen (die meisten Deutschen haben den namibischen Paß) hat der ehemalige Terrorist seinen Wahlkampf bestritten.

Reinhard Friedrich, dessen Familie seit 1868 in Südwest lebt, ist einer von ihnen. Er empört sich: "Nicht wenige heutige Regierungspolitiker haben die meiste Zeit in Angola verbracht. Und uns, die wir immer hier gelebt haben, wollen sie jetzt rausschmeißen." Er betreibt eine Farm im nördlichen Teil Namibias und ist einer der besten Buschmann-Kenner des Landes. Für die Gleichberechtigung dieses von der SWAPO schwer diskriminierten Volkes setzt sich der kräftige Mann mit der sonnengegerbten Haut sehr engagiert ein. Er spricht sogar deren Sprache.

Seit der Unabhängigkeit ginge es dem Land deutlich schlechter als vorher, sagt er. Die nackten Zahlen geben ihm recht. Die Arbeitslosigkeit ist in den Städten auf 80 Prozent hochgeschnellt. Dadurch hat sich die Kriminalitätsrate verzigfacht. Außerdem habe der Staat kaum noch Geld, weil das militärische Engagement im Kongo-Krieg Unsummen verschlinge. "Ich kann nicht verstehen", sagt Friedrich, "daß ein so armes Land wie Namibia unbedingt Krieg führen muß".

Auch für die Deutschen haben sich die Zeiten geändert, sagt Friedrich: "Vorher gab es Rassismus gegen die Schwarzen, heute haben wir einen Rassismus gegen die Weißen." So sollen per Gesetz Teile der von Weißen betriebenen Farmen enteignet werden, um den Schwarzen Land zu geben. Was aus schwarzer Sicht zunächst wie die Bereinigung von altem Unrecht aussieht, erweist sich in der Praxis als kontraproduktiv. Landwirtschaft ist eine Kunst, die erlernt sein will – in einem so unwirtlichen Land wie Namibia erst recht. Viele der Farmen, die über hundert Jahre von Deutschen beackert wurden und neuerdings von Schwarzen betrieben werden, sind innerhalb von drei bis vier Jahren komplett heruntergewirtschaftet. Von ökologischem Landbau, der in einer so trockenen Gegend notwendig ist, haben die meisten Schwarzen keinen blassen Schimmer. So sind die Weiden schnell völlig kahlgefressen, das Land unbrauchbar. Der Schwarze, eben noch stolzer Farmbesitzer, muß wieder beim Weißen um Arbeit auf dessen Farm nachfragen.

Die meisten Schwarzen seien ohnehin froh, keine Verantwortung für einen Farmbetrieb übernehmen zu müssen, sagt Walter Theile. Er bewirtschaftet gemeinsam mit seiner Frau Renate Land in der Größe des Fürstentums Liechtenstein am Rande der Namib-Wüste. Seit fünf Jahren hat es auf seiner Farm nicht mehr geregnet. Mit viel Arbeit und Mühe hat er es geschafft, daß seine Tiere nach wie vor genug Gras und Wasser finden.

Swakopmund erscheint wie eine deutsche Stadt

Walter Theile ist bekennender 68er. In der namibischen Hafenstadt Lüderitz geboren, ging er zum Studium nach Heidelberg. Dort lernte er seine Frau kennen. Beide wurden Studienräte und gaben nach einigen Jahren der Lehrertätigkeit ihre gesicherte Beamtenlaufbahn auf, um sich mit ihren Kindern dem Abenteuer Südwest zu stellen. Seit 17 Jahren leben sie nun auf ihrer Farm. Der nächste Nachbar ist Hunderte von Kilometern entfernt. Er bekommt oft Besuch von durchreisenden deutschen Touristen. Einige haben ihn anklagend gefragt, warum seine schwarzen Angestellten nicht in einem ebenso komfortablen Haus leben wie er und seine Frau. Das sei doch Rassismus. Theile versteht in solchen Situationen die Welt nicht mehr. Sein linkes Weltbild bröckelt. Ihn "kotzt es an", wie Weltverbesserer aus Deutschland über die Lage in Afrika urteilten, ohne sie zu kennen. Die Schwarzen seien überaus dankbar, Arbeit zu haben und ein eigenes Haus zu bewohnen. Selbständiges Arbeiten ohne Anweisung sei für viele ein Fremdwort. Es werde Generationen brauchen, bis sich das ändere.

Theile erzählt, wie unselbständig beispielsweise sein Vorarbeiter sei. Bei Bauarbeiten ging dieser mit der mit Zementsäcken beladenen Schubkarre über den Hof. Das Rad war fast platt. Theile sagte ihm, er solle den Reifen aufpumpen. Der Vorarbeiter verstand und machte sich an die Arbeit. Der Farmer ging derweil in sein Haus. Eine Viertelstunde nach diesem Gespräch gab es einen ohrenbetäubenden Knall: Der Vorarbeiter hatte den Reifen solange aufgepumpt, bis dieser platzte. "Wie bei einem kleinen Kind muß man alles ganz genau erklären", sagt Theile. Er wirkt nicht resigniert.

In Namibia leben 1,6 Millionen Menschen. Und das auf einer Fläche von 842.000 Quadratkilometern. Das Land ist so groß wie Deutschland, Italien, Österreich, die Schweiz und Holland zusammen. Die meisten Südwester leben in den Städten, und die sind von den Deutschen dominiert. In der malerischen Hafenstadt Swakopmund hängt an vielen Kiosken der Aufkleber "Wir sprechen bayerisch mit deutschem Akzent." Diese Ironie ist typisch für die Deutschen in Namibia. Sie sind es, die durch fleißige Arbeit das Land aufbauen und dennoch politisch benachteiligt sind. Aber die Deutschen nehmen ihre Situation mit stoischer Gelassenheit hin. Noch tragen die Straßen fast ausschließlich deutsche Namen. Roon, Moltke, Bismarck, Kaiser Wilhelm sind die häufigsten Paten. Die Magistrale in Windhoek, die Kaiserstraße, hat allerdings kurz nach der Unabhängigkeit ihren Namen eingebüßt. Heute heißt sie Independence Avenue. Jede Stadt hat inzwischen auch eine nach Sam Nujoma benannte Straße. Aber das trübt das deutsche Gesamtbild überhaupt nicht. Wer in Swakopmund ist, glaubt, er sei in Deutschland. Denn auch die Schriftzüge auf den alten Häusern sind deutsch: "Kaiserliches Bezirksgericht", "Altes Amtsgericht", "Postamt" und so weiter. Und während es in Deutschland modern ist, alles in englischer Sprache zu benennen, wird man in Namibia kaum eine Gaststätte finden, die keinen deutschen Namen trägt.

In Peter Hallers Antiquitätengeschäft an der Moltke-/Ecke Brückenstraße bekommt man sowohl koloniale als auch afrikanische Souvenirs. Die kaiserliche Reichskriegsflagge, die einst offizielle Fahne der Kolonie war, wird ebenso angeboten wie Bierkrüge, Kaffeetassen und Kacheln mit dem inzwischen in Deutschland inkriminierten alten Wappen. Dazu in Frakturschrift "Deutsch-Südwestafrika". Haller verfügt außerdem über eine gutsortierte Buchhandlung über die deutsche Kolonialzeit.

Auch in Windhoek werden im neuen Post-Mall-Einkaufscenter koloniale Souvenirs verkauft. Aber es dominieren aus Holz geschnitzte Tiere der Schwarzen. Als deutsche Souvenirs gibt es schwarz-weiß-rote Aufkleber mit dem Reiterdenkmal und der Aufschrift "Deutsch-Südwest-Afrika" zu kaufen sowie Postkarten mit dem Südwester-Lied. In der kolonialen Hymne heißt es im Refrain: "Und sollte man uns fragen, was hält Euch denn hier fest? Wir könnten nur sagen, wir lieben Südwest."

Genau diese Antwort erhält man, wenn man mit den deutschen Namibiern darüber spricht, was sie trotz erschwerter politischer Bedingungen so fern der Heimat machen. Und meistens fügen sie hinzu: "Auch wenn ich noch nie in Deutschland war, es ist mein Vaterland, aber Südwest ist meine Heimat. Ich gehe hier nie mehr weg."


 
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