© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/00 24. Dezember / 31. Dezember 1999


Pankraz,
M. de Montaigne und die süße Gabe des Sichkratzens

Gestern beobachtete Pankraz im Tiergehege einen riesigen Wildschweinmann, der sich intensiv an einem Baum scheuerte, sich also gewissermaßen am Wanst kratzte. Die Miene, die das Monster dazu machte, war derart verzückt, daß man es kaum beschreiben kann. Ein geradezu blödsinniges Wonnegefühl zeichnete sich auf dem sonst so würdigen Keilergesicht ab, ein Absturz in tiefste Kindlichkeit, Ausdruck totaler Hingabe, die alles andere um sich herum vergaß, um nur noch und einzig und allein für diesen banalen Vorgang des Kratzens da zu sein.

Da ging Pankraz auf, daß der große Michel de Montaigne vielleicht doch nicht übertrieben hat, als er in seinen "Essays" konstatierte: "Das Sichkratzen ist die süßeste Gabe, die die Natur für die lebende Kreatur bereithält, und es ist das Privileg von uns Menschen, daß wir uns faktisch überall und zu jeder Zeit ausgiebig kratzen können."

Tatsächlich gelangen wir mit unseren Fingern ja überall hin, abgesehen von gewissen Schulterblätterpartien, die wir aber im Bedarfsfalle leicht mit dem Kamm, dem Zahnbürstenstiel oder einem Schuhanzieher erreichen. Was für ein Vorzug das ist, zeigen uns die Säugetiere und Vögel, die diese Fähigkeit nicht besitzen und die deshalb unter den Juckreizen an vielen Körperstellen außerordentlich leiden müssen. Albatrosse etwa oder Sturmvögel können sich aus eigener Kraft nie unterm Kinn (unterm Schnabel) oder am Nacken kratzen, brauchen dazu die Hilfe ihres Ehegatten. Biologen haben oft den Eindruck, die Vögel heiraten nur, um sich gegenseitig kratzen zu können.

Nilpferde oder Nashörner sind in Hinblick auf ihre fetten Rücken noch schlimmer dran. Gäbe es nicht die zahllosen Madenhacker und Silberreiher, die üblicherweise dort herumspazieren und herumpicken, wer weiß, vielleicht würden z.B. die Nilpferde völlig durchdrehen und sich noch wütender gebärden, als sie es ohnehin tun. Zu bedauern sind auch die Schildkröten, die sich das juckende Tränensalz nicht aus den Augenwinkeln wischen können. Manchmal läßt sich ein Schmetterling auf ihren Augen nieder, um das Salz zu trinken, und es ist rührend zu sehen, wie willig sich die ungefügen Tiere solche Landungen gefallen lassen.

Aber es ist nicht nur Salz, das weggekratzt sein will. Alle möglichen Parasiten bevölkern die Pelze und Gefieder der höheren Tiere, Milben, Läuse, Flöhe, und den Kampf gegen diese Blutsauger kann ein einzelner nie gewinnen, eben der fehlenden oder unzulänglichen Kratzmöglichkeiten wegen. Deshalb nicht zuletzt die so dauerhaften tierischen Sozialverbände. Sie dienen dem effizienten Beutefang und der Absicherung gegen äußere Feinde, vor allem aber dienen sie der Bekämpfung der inneren Feinde, der Blutsauger an den individuell unbekratzbaren Stellen.

Affen, unsere nächsten Verwandten im Tierreich, haben das genau begriffen. Ihr Sozialleben besteht bekanntlich zu mindestens achtzig Prozent aus gegenseitigem Sichkratzen. Der Rang in der Horde bestimmt sich nach dem Grad des Bekratztwerdens, Verwandtschaften und Liebesbeziehungen werden durch Kratzen dokumentiert und befestigt, und so mancher Junggeselle, so manche kinderlose Tante erhält Familiezugang und einen würdigen Platz in der Hierarchie, indem sie sich als Kratzer, bzw. Kratzerin bewähren, als Kratzmeister und Erfinder neuer, besonders genußreicher Kratzmethoden.

Uns Menschen kommt das merkwürdigerweise komisch vor. Nichts Lächerlicheres, schon für jugendliche Zoobesucher, als eine sich hingebungsvoll kratzende Affenhorde. Wahrscheinlich drückt sich in unserem Gelächter technisches Überlegenheitsgefühl aus, die Vollbewußtheit jener von Montaigne notierten Privilegierung des Homo sapiens. Aber ist nicht noch etwas anderes im Spiel, nämlich heimlicher Neid, Bedauern darüber, daß uns das ungescheute gegenseitige Sichkratzen so früh abhanden gekommen ist?

Schon in den archaischsten Stammeskulturen ist das Sichkratzen, individuell oder gegenseitig, aus der öffentlichen Selbstdarstellung ausgeschlossen, in die Intimsphäre verbannt. Wir dürfen uns öffentlich streicheln, tätscheln, freundschaftlich beklapsen, anstupsen, umarmen, seit einiger Zeit auch küssen, doch kratzen dürfen wir uns nicht, es sei denn, wir wollen uns vollkommen unmöglich machen. Keine Lockerung der Sitten und keine sexuelle Permissivität hat daran etwas geändert.

Gut möglich, daß uns durch die feste Etablierung und Beachtung dieses Tabus viel von unserer naturgegebenen Spontaneität und Widerstandskraft genommen worden ist und daß die Blutsauger daraus Vorteil gezogen haben. Es gibt ja nicht nur ein körperliches, sondern auch ein geistiges Sichkratzen, ein flottes, handfestes Sichfreimachen von lästigen, letztlich die Gesundheit schädigenden Denktabus und Erinnerungen. Auch diese "süße Gabe" (Montaigne) ist uns offenbar, seit der Steinzeit schon, öffentlich verwehrt, auch geistig laufen wir mit unzähligen Milben und Flöhen im Pelz herum, und vielleicht liegt hier die Ursache dafür, daß so viele Dinge nicht mehr recht vorankommen, wen immer man auch wählt und wer immer den "Reformstau" auflösen will.

Pankraz ist versucht zu raten, daß man sich in Vorbereitung der kommenden Jahrtausendwende, statt in feierlichem Orgelton zu schwelgen und dröhnende Deklarationen abzugeben, einmal gründlich durch- und durchkratzen sollte, individuell und kollektiv, äußerlich und innerlich, an allen nur erreichbaren Körper- und Geistesteilen. Die Mienenspiele, die dabei entstehen, mögen begriffsstutzig und sogar blödsinnig wirken wie bei dem erwähnten Keiler im Wildschweingehege, aber in vielen Quartieren gäbe es zweifellos einen tiefen, einen abgrundtiefen Seufzer der Befriedigung, einen gewaltigen Jahrtausendseufzer.

Möchte da wirklich noch jemand Schildkröte spielen und auf einen Schmetterling warten, damit er endlich sein Salz loswird?


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen