© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/99  01. Januar 1999

 
 
Gesundheitspolitik: Die rot-grüne Reform der Reform ist noch lange keine Kehrtwende
Kassenpatienten werden Bittsteller
Ronald Schroeder

Kaum im Amt, setzt die rot-grüne Koalition die Zuzahlungen für Medikamente herab, schafft das jährliche Krankenhaus-Notopfer von 20 Mark ab und läßt auch die Zahnersatzleistungen von jungen Versicherten wieder von den Krankenkassen erstatten. Das verursacht 1999 Mehrkosten von etwa zwei Milliarden Mark. Auch ohne diese Mehrleistungen wären aber Einsparungen am Gesundheitsbudget notwendig gewesen, um weiter steigende Krankenversicherungsbeiträge zu verhindern. Nun müssen die Einsparungen an anderer Stelle um so deutlicher ausfallen. Hierzu können durch Budgetierung zwar die Gesundheitsausgaben, nicht aber die Krankheiten begrenzt werden. Mit der von Gesundheitsministerin Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) viel proklamierten "Kehrtwende in der Gesundheitspolitik" hat das allerdings wenig zu tun.

Ein Anreiz zur Reduzierung der Kosten besteht nicht

Dieser planwirtschaftliche Regulierungsversuch hat die Auswirkungen der doppelten Altersdynamik gegen sich: Einerseits werden die Alten immer mehr, und sie werden immer älter. Zugleich ermöglicht der medizinische Fortschritt immer bessere, aber teurere Behandlungen. Menschen werden länger am Leben erhalten, ohne daß ihre volle Gesundheit wiederhergestellt werden kann. Die Zahl der chronisch Kranken nimmt zu. Überdurchschnittlich steigende Gesundheitsausgaben sind die Folge. Marktwirtschaftlich betrachtet, handelt es sich eigentlich um einen Wachstumsmarkt. Doch Zulassungsbeschränkungen für Mediziner laufen auch hier auf Rationierung von Leistungen hinaus.

Volle Teilnahme an den Fortschritten der Medizintechnik würde einen höheren Eigenanteil an der Gesundheitsversorgung erfordern. Rationiert man die Leistungen, müssen Vertreter der Ärzteverbände, Funktionäre der Krankenkassen, Politiker, Lobbyisten der Pharmaverbände und Klinik-Betreiber um die Verteilung der Versicherungsgelder feilschen. Sie definieren medizinisch notwendige Leistungen, benennen angemessene Behandlungsmethoden und Medikamente und bestimmen die dafür "gerechte" Vergütung.

Selbst bei absoluter fachlicher Neutralität wären Fehler nicht zu vermeiden. In der Praxis aber spielt auch politischer Druck eine Rolle, weil bei vorgegebener Verteilungsmasse jede Regelung zugunsten einer Partei zu Nachteilen für eine andere führt. Ein Anreiz zur Kostenreduzierung besteht nicht, weil Rationalisierungsgewinne umgehend auf alle Leistungserbringer verteilt werden. Ist das vorgegebene Honorarvolumen erreicht, werden alle weiteren Leistungen ohne Honoraranspruch erbracht. Wird das zugeteilte Medikamentenvolumen überschritten, werden die Ärzte sogar in Regreßpflicht genommen. Das führt zu einem geringen Behandlungsinteresse an niedrig vergüteten Leistungen. Patienten spüren das an vergleichsweise längeren Bestellfristen.

Chronisch Kranke werden zu einer Belastung

Mittlerweile existieren schon Gerichtsurteile, die es Ärzten verbieten, Leistungen deshalb zu verweigern, weil sie nicht kostendeckend erbracht werden können. Besonders lukrativ vergütete Behandlungen werden plötzlich in steigendem Umfang durchgeführt. Kassenpatienten mit chronischen Krankheiten, die zudem größere Mengen an teuren Medikamenten benötigen, sind eine wirtschaftliche Belastung für niedergelassene Ärzte. Neue, innovative Arzneimittel werden zögerlicher verschrieben, weil sie besonders teuer sind.

Gemäß dem Solidaritätsstärkungsgesetz muß das Arzneimittelbudget 1999 gegenüber 1998 um eine Milliarde Mark sinken. Das Budget der Zahnärzte für Zahnersatz und Kieferorthopädie wird gegenüber 1997 um fünf Prozent gesenkt. Für die übrigen Zahnbehandlungen wird das Budget 1999 auf dem Niveau von 1997 festgeschrieben. Die Arzthonorare sollen 1999 geringer steigen als die Versicherteneinkommen. Steigt die Ärztezahl schneller als die Honorarsumme, sinken die Honorar-einnahmen für den einzelnen Arzt. Wenn aber die Strompreise, die Preise für medizinische Geräte oder die Ausgaben für Praxismitarbeiter steigen und zugleich die Vergütungen sinken, wird das Erbringen von medizinischen Leistungen weniger attraktiv.

Für die Kliniken, größtenteils in der öffentlichen Hand, wurde auf Druck der Gewerkschaft ÖTV im Budget für 1999 zumindest ein Zuschlag für den Fall steigender Tarifgehälter eingeplant. Für die privat niedergelassenen Ärzte wurde ein solcher Inflationsausgleich nicht gewährt. Folglich wird hier besonders ernsthaft über die Entlassung von Mitarbeitern nachgedacht. Die Klinikbetreiber rechnen mit dem Verlust von etwa 40.000 Arbeitsplätzen, die Apotheker mit rund 12.000 bedrohten Stellen, und die Kassenärztliche Bundesvereinigung sieht 100.000 Stellen von Arzthelferinnen gefährdet. Dies nicht deshalb, weil der durchschnittliche niedergelassene Arzt plötzlich dem Ruin nahe wäre und seine Mitarbeiter nicht mehr bezahlen könnte, sondern weil die Beschäftigung dieser Mitarbeiter unternehmerisch nichts bringt. Wenn selbst mit geringerem Personalbestand das vorhandene Budget vollständig abgearbeitet werden kann, lohnt Mehrbeschäftigung nicht.

Die Versorgung der Patienten ist gefährdet

Möglicherweise läßt sich auch die Ausstattung mit medizinischen Geräten zurückfahren. Bei betriebswirtschaftlich vernünftigem Verhalten der Ärzte ist in der Tat nicht primär deren Einkommen, sondern die Versorgung der Patienten gefährdet. Der Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, hat das mit seiner später zurückgenommenen Formulierung von der Förderung des sozialverträglichen Frühablebens zwar überspitzt, aber treffend ausgedrückt. Ärzteproteste und -streiks sind somit mehr Ausdruck solidarischen Handelns als das Solidaritätsstärkungsgesetz. Je rigoroser die Gesundheitsausgaben budgetiert werden, desto uninteressierter sind die medizinischen Dienstleister am Kassenpatienten. Gerade die, die man zu schützen vorgibt, werden zu Patienten zweiter Klasse. Was zu Erscheinungen führt, die man aus sozialistischen Systemen kennt: der Patient als Bittsteller für rationierte Leistungen.


 
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