© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/99  01. Januar 1999

 
 
CD: EBM
Gratwanderung
Ulli Baumgarten

Schwermütigkeit, Todesverliebtheit, okkultistische Neigungen – dies und noch mehr sind die Klischees, mit denen die "Schwarze Szene" seit jeher zu kämpfen hat, denen sie aber nur in den seltensten Fällen wirklich entspricht. Wer sich mit dieser Subkultur eingehender beschäftigt, wird überrascht sein von der allerorten zu entdeckenden Kreativität und von einer Sensibilität, die in unserer kalten, "coolen" Welt geradezu anachronistisch erscheint. Eine Berliner Szenefigur hat das einmal treffend ausgedrückt: "Wir wollen die Welt durch Schönheit erlösen" – für solch ein Anliegen hat die aufgeklärte Welt nur Hohn übrig.

Eine der bekanntesten Gruppen der "Schwarzen Szene" aus dem Bereich der Gothic-Musik ist die österreichische Formation Sanguis et cinis. Unverständlicherweise wurde und wird ihnen manchmal vorgeworfen, zu stark an die Szenehelden von Lacrimosa zu erinnern. Ein Vorwurf, den ihre Maxi-CD "Unfreiwillig abstakt" grandios zu entkräften weiß, ist sie doch wesentlich besser als so ziemlich alles, was Lacrimosa je hervorgebracht hat. Das Trio, das diese Maxi einspielte, fällt nicht nur durch ein für Normalbürger "erschröckliches" Aussehen auf, sondern bietet eine musikalische Stilvielfalt und ein Können, von dem sich viele andere Bands der Szene eine Scheibe abscheiden können. Die vier Lieder enthaltende CD – alles wird auf deutsch gesungen – beeindruckt besonders durch die gekonnte Verknüpfung verschiedener Stilelemente; so findet der Hörer neben Klassikelementen auch solche, die dem Gothic, Metal und Wave zugehörig sind. Was bei vielen anderen Gruppen leicht zu einem Stilmischmasch werden kann, wissen die Österreicher nicht nur intelligent, sondern auch melodiös und harmonisch zu verbinden. Ich glaube, daß man Sanguis et cinis eine große Zukunft voraussagen kann.

Ebenfalls aus Österreich kommen L’ame immortelle. In ihrem Debutalbum "Lieder, die wie Wunden bluten" verbinden sich Gothic- und Elektro-Klänge mit gelegentlicher Neoklassik. Obwohl ihre Musik eingängiger – im gewissen Sinne sogar "poppiger" – ist als das Werk von Sanguis et cinis, schaffen es L’ame immortelle jedoch, ihnen an Dramatik gleichzukommen, was nicht zuletzt an dem sehr guten Gesang liegt.

Wie viele EBM-Bands, so setzen auch die Österreicher einen Sprachverzerrer bei der männlichen Stimme ein, der ihr eine Mischung aus Aggressivität und Maschinenhaftigkeit verleiht; die weibliche Stimme, der die Gesangsausbildung deutlich anzumerken ist, wird unverzerrt dargestellt, was dem Ganzen einen sehr interessanten Kontrast gibt: Maschinentum gegen Romantik. Obwohl also EBM-Einflüsse zum Einsatz kommen, sind L’ame immortelle dennoch weniger zur "Tanz oder Stirb"-Fraktion zu zählen, sondern legen sowohl musikalisch als auch textlich ihren Schwerpunkt auf die Schattenseiten des Lebens und der Menschen. Ihnen gelingt die Gratwanderung zwischen Schwermütigkeit und blanker Depressivität, ohne daß sie den Hörer direkt zur Giftpille oder zum Strick greifen lassen. Von Ausnahmen abgesehen, und diese sind so geringfügig, daß man sie gerne übersieht, schaffen sie es in ihren Texten sogar, an den Klippen des Pathos vorbeizusegeln – eine Gefahr, die bei dramatischer Musik und ebensolchen Texten bekanntlich immer besteht. Nach solch einem Debut werden die Erwartungen an ihr nächstes Album sehr hoch ausfallen. Beide CDs sind erhältlich bei M.O.S.Records, Altenbach 24a, 9490 Vaduz, Liechtenstein.


 
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