© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/99  01. Januar 1999

 
 
Die Macht der Idee als Lebenslüge
Von Lothar Höbelt

"Was ist rechts?" Die Debatte ist notwendig, im Sinne der Klärung von Begriffen und Identität. In der Identität liegt freilich auch das Problem: Definitionen von "rechts" tendieren zu einer philosophischen Vergewisserung des eigenen Standpunkts. Genau dafür eignet sich die Vokabel "rechts" nun überhaupt nicht.

Über den wahren Gehalt des Sozialismus oder des nationalen Gedankens mag man sich in tiefsinnigen Betrachtungen verlieren. Bei Begriffen wie rechts und links ist das verlorene Liebesmüh. Rechts ist kein "-ismus", den es zu ergründen gilt, sondern ein Kürzel, das eine oberflächliche, erste Orientierung über die politische Landschaft gibt. Daher müssen auch alle Definitionen keineswegs ewig gültig sein, sondern extrem zeitbezogen. (Churchill zum Beispiel galt vor dem Ersten Weltkrieg als linke Mitte und vor dem Zweiten als Rechtsaußen und hatte doch seine Auffassungen nicht geändert.) Daher wäre es auch völlig falsch, diese Begriffe mit irgendwelchen Entwürfen von Selbstverwirklichung zu überfrachten.

Das einzige, was man verlangen kann, ist eine gewisse logische Kohärenz, sprich: Eine brauchbare Definition von rechts sollte nach Möglichkeit das Gegenteil von links umfassen, sonst macht das ganze wenig Sinn. Sie sollte darüber hinaus auch über den Bereich eines einzigen Landes hinaus verwendbar sein. Gehe ich von diesen Kriterien aus, so ist das Problem auch beinahe schon gelöst: Links ist der Sozialismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen, nicht bloß in seiner klassischen Form als Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, sondern in seiner alltäglichen Gegenwart als staatliche Verfügungsgewalt über das Eigentum seiner Bürger. Links, im US-Jargon: "liberal" heißt tax-and-spend. Rechts ("conservative") ist das Gegenteil, minimale Regierungseingriffe, Steuersenkung und der Verzicht auf jede Form des social engineering.

Rechte sind im wohlverstandenen Sinn Sozialdarwinisten: Sie bejahen deshalb faktische Ungleichheit. Und sie verstehen Maggie Thatcher, wenn sie sagt: "There is no such thing as society", keine Gesellschaft nämlich, die an allem schuld ist und für alles aufkommen muß. (Wenn man an die Stelle der Gesellschaft die mit der Zeit nicht minder anonyme "Umerziehung" als Allerweltserklärung setzt, charakterisiert das, fürchte ich, die Mentalität mancher Rechten recht gut.) Sie glauben an die disziplinierende Wirkung des Bankrotts und hassen die Larmoyanz der Verlierer. Rechte sind Vernunftdemokraten. Demokraten, nicht weil sie notwendigerweise an die Volkssouveränität glauben, sondern weil parlamentarische Kontrolle ohne demokratische Rahmenbedingungen heutzutage schwer vorstellbar erscheint; sie relativieren den Primat der Demokratie aber sofort wiederum, weil sie den Bereich des Staates ohnehin eingeengt wissen wollen.

"Links" und "rechts" verkörpern Tendenzen. Sie sind Richtungsweiser, keine präzise ausformulierte Anweisung auf irgendeinen Endzustand: Auf dieser Skala, die selbstverständlich keine Schwarz-Weiß-Kontraste kennt, sondern nur Grautöne, kann sich dann jeder verorten. Verorten nach seinen praktischen Vorstellungen, nicht nach seinen weltanschaulichen Motiven. Ob einer für Wirtschaftslenkung eintritt, weil er vorgibt, den Armen in der Dritten Welt helfen zu wollen oder zum Schutz der "nationalen Arbeit" ausreitet, ist gleichgültig: Er bleibt ein Linker. Ob einer sich bürokratische Gängelung verbietet, weil der Staat ihm nicht genügend gottesfürchtig ist oder weil er ihm keine Managementtalente zutraut, ist auch gleichgültig: Er ist ein Rechter.

Ob das jetzt ein optimistisches oder ein pessimistisches Weltbild widerspiegelt, ist uninteressant. Will man daraus "-ismen" formen, so handelt es sich um Sozialismus und Liberalismus, doch ohne ihren weltanschaulichen Ballast bzw. befreit vom Gesäusel der jeweiligen Gutmenschen. Anders ausgedrückt: Rechte sollten den Liberalismus nicht den blaßrosa Jammergestalten überlassen, die sich heutzutage liberal nennen. Und andererseits nicht in den Trugschluß verfallen, daß der reale Sozialismus mit seiner exorbitanten Steuerquote und seiner beängstigenden Regelungsdichte zu existieren aufgehört hätte, bloß weil ein paar Alt-Marxisten zeitgeistkonform Kreide geschluckt haben. So schnell vergehen Strukturen und die Frontstellungen, die sich daraus ableiten, nicht.

Rechts ist damit selbstverständlich weder gleichbedeutend mit konservativ noch mit national. "Konservativ", wie Götz Kubitschek richtig bemerkte, ist jeder Mensch, wenn es um seinen Bereich geht. Auf alle Fälle wäre es keinesfalls verwunderlich, wenn wir am Ende eines Jahrhunderts, das ganz entscheidend von sozialistischen Vorstellungen geprägt wurde, zur Erkenntnis kommen müssen, daß viele, die in diesem Sinne mit Recht als Konservative gelten, sprich: ihre bisherigen Lebensverhältnisse möglichst unverändert fortschreiben wollen, sich – bewußt oder unbewußt – als Anhänger eines sozialdemokratischen Politprojekts entpuppen. Allenfalls mag man manchen von ihnen zugute halten, daß sie bloß noch nicht kapiert haben, daß zwar nicht dieses Land, aber dieser Staat als Institution spätestens seit 1918 nicht mehr der ihre ist, daß Herrschaft ohne Verwaltung ein schöner Traum bleiben muß und daß Apparate nun einmal schwer ohne Apparatschiks denkbar sind.

Wenn so mancher rechter Recke nach dem starken Staat ruft, der dem Markt Einhalt gebietet und ihm seine Gesetze vorschreibt, so hat er in Frau Christa Müller ohnehin schon eine einflußreiche Fürsprecherin. Zwar würden wohl beide die These, daß die Frau Finanzminister bloß ihre hübschen Beine von so manchem Gott-sei-bei-uns der PC-Szene unterscheiden, als ehrenrührige Unterstellung betrachten – und doch, so fürchte ich, ist an dieser Behauptung etwas dran.

National sind theoretisch übrigens weder die Rechten noch die Linken; der Sozialismus ist international, der Liberalismus individualistisch. Theoretisch, wohlgemerkt. In der Praxis hat das Politiker beider Richtungen selten davon abgehalten, die konkreten Interessen ihrer jeweiligen Klientel zu verfechten. Der institutionelle Rahmen dessen, was gemeinhin ein wenig ungenau als Nationalstaat bezeichnet wird, ist dabei ohnehin vorgegeben. Daß man die Interessen der eigenen Wähler oder Geldgeber vor denen anderer reiht, dazu bedarf es keines besonderen Patriotismus. (Ein spezielles Problem, das herkömmliche Fronten transzendiert, stellt freilich die Frage der Einwanderung dar: Ob man daraus allein schon eine Umpolung des Systems ableiten kann, ist allerdings fraglich.)

Gerade wer Völker ethnisch-kulturell bestimmt sieht, kann der dummen Souveränitätsfrage mit gewisser Gleichgültigkeit gegenüberstehen: Daß die Angelsachsen getrennt marschieren, hat ihrer Weltgeltung keinen Abruch getan – im Gegenteil. Welcher imperiale Rahmen sich zur Wahrnehmung der Interessen eines bestimmten Volkes oder einer Volksgruppe am besten eignet, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, nicht der Prinzipien. Parlamentarische Kontrolle ist im Rahmen ethnisch homogener Staatsgebilde am besten möglich; und auch vom Standpunkt der Verwaltungsvereinfachung empfiehlt sich dieses Modell. Aber man kann nicht ausschließen, daß sicherheitspolitische Motive für eine Verklammerung auf höherer Ebene sprechen. Gerade für Rechte ist Fundamentaldemokratisierung nachrangig gegenüber der Funktionstüchtigkeit von Institutionen.

Selbstverständlich national zu sein, ist für Deutsche offenbar schwierig. (Und noch einmal schwieriger für Nationale in Österreich, wo das Distanzierungsbegehren allenfalls durch seine leicht durchschaubare Koketterie erträglich gemacht wird.) In der deutschen Öffentlichkeit liebt man es, den Eindruck zu erwecken, als sei Deutscher zu sein nicht jener paradiesische Zustand, nach dem sich Millionen von potentiellen Asylanten sehnen, sondern eine Art biblischer Fluch, den es mit Demut und Schuldbewußtsein zu ertragen gelte, und zwar ziemlich unabhängig davon, ob er jetzt als Resultat der Schuld oder der Niederlage betrachtet wird. Wobei allerdings ein gerüttelt Maß von Masochismus dazu gehört, die Stellung Deutschlands in der Welt nicht an seinen Auslandsinvestitionen oder an der Position der D-Mark als Leitwährung zu messen, sonden an der – zugegeben: oftmals lächerlich verkrampften – Haltung seiner Repräsentanten bei zeitgeschichtlichen Fachkontroversen. (Wobei sich allerdings das Kalkül aufmachen ließe, daß die sogenannte "Holocaust-Awareness" zwar möglicherweise PR-mäßig im Interesse Israels liegt, von ihren tatsächlichen Betreibern her aber längst ein bundesdeutscher Markenartikel und Exportschlager geworden ist.) Wie dem auch immer sei: Mit links und rechts hat das Ganze wenig zu tun.

Damit stoßen wir vielleicht zum Kern der Misere vor: Was unter der Bezeichnung "bundesdeutsche Rechte" oder gar: "Neue Rechte" läuft, ist eine Residualkategorie von Nonkonformisten, die zu dieser Bezeichnung kommen wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kinde, als intellektuelles Biotop zuweilen recht anregend, als politische Formation hoffnungslos. Viele davon scheinen nach unserer Definition eher Linke zu sein, die bloß semantische Mißverständnisse und soziologische Zufälligkeiten vor dieser Etikettierung bewahren. Die Einwanderungsfrage (in sublimierter Form: die Frage der nationalen Identität) mag als Trägerrakete für eine Partei gut sein, aber sie ist nicht abendfüllend. Damit wird man bestenfalls zu einer single-issue group, nicht zu einem eigenständigen Sektor der politischen Landschaft.

Sich primär auf dem Feld der Metapolitik bewähren zu wollen, ist vollends ein Phänomen der Resignation. Wer die Sitten und Gebräuche, die Denkgewohnheiten eines Volkes ändern will, sollte unter die Religionsstifter gehen, unter die Gurus und Wunderheiler, nicht unter die Politiker. Es ist ein typisch deutscher Irrglaube, der schon lange vor 1945 zu hämischen Kommentaren Anlaß gegeben hat, über kulturelle Hegemonie zu politischer Wirksamkeit gelangen zu wollen: Die Deutschen streiten sich darüber, wie die Welt anzuschauen ist, während die anderen damit beschäftigt sind, sie untereinander aufzuteilen.

Der philosophische Diskurs mag spannend und wertvoll sein; letztendlich ist es sogar das kulturelle Erbe, was von uns bleibt. Wir erinnern uns auch an Leonardo – und an die Condottieri, die zu ihrer Zeit Politik machten, nur insofern, als sie für ihn Modell saßen. Aber für rechts und links erwächst daraus keine Nutzanwendung.

Richtig ist zweifellos auch: Haltung zu bewahren (und nicht bloß Gesinnung zu bekunden) ist eine Frage des Charakters. Doch ihre Mitläufer, ihre Heuchler und ihre Konjunkturritter braucht die Rechte genauso wie die Linke. Und Geld, das angebliche Teufelszeug, erst recht. Politik ist ein Geschäft und ein Beruf. Der rührende Glaube an die Geschichtsmächtigkeit von bloßen Ideen, der in der Praxis ohnehin zumeist zum Wiederkäuen eifrig propagierter Worthülsen verkommt, ist eine Lebenslüge. Wenn die Rechte zu Einfluß kommen will, muß sie an konkrete Interessen anknüpfen: Mit der philosophischen Suche nach der wahren Lehre hat das nichts zu tun, sondern bloß mit der nüchternen Analyse der Lage und ihrer Marktchancen in einer mittelfristigen Zukunft.

 

Prof. Dr. Lothar Höbelt ist Historiker und lehrt an der Universität in Wien


 
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