© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/99 15. Januar 1999


Berlin: SPD-Mitglieder wählen Spitzenkandidaten
Linke Streithähne
Ronald Gläser

An diesem Wochenende entscheiden die 22.000 Berliner SPD-Mitglieder über den Spitzenkandidaten, der sie in die Wahlschlacht im kommenden Herbst führen soll. Als Herausforderer des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU) bewerben sich der SPD-Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus, Klaus Böger, und Berlins ehemaliger Regierungschef Walter Momper.

In der vergangenen Woche ist Momper, der Außenseiter im Rennen um die Spitzenkandidatur der Genossen, noch einmal in die Offensive gegangen. Er hat ein Programm vorgelegt, dessen zentraler Bestandteil die Verkehrspolitik in der Hauptstadt ist. Momper will schneller und härter für die Umsetzung des 80:20-Modells kämpfen, das vorsieht, daß der innerstädtische Individualverkehr auf ein Fünftel reduziert wird.

Dieses absurde Ziel, das sich in der Hauptstadt einer der größten Industrienationen dieser Erde kaum umsetzen lassen wird, begeistert die Studentenparlamentsphantasien der Anhänger von Walter Momper. Zu seiner Durchsetzung soll die Parkraumbewirtschaftung praktisch auf die gesamte Berliner Innenstadt ausgedehnt werden.

Ob dies letztendlich von den Wählern begrüßt wird, ist fraglich. Die linke Anhängerschaft zieht Momper damit aber zunächst einmal auf seine Seite. Ein weitaus größerer Teilerfolg ist Momper dann in der vergangenen Woche gelungen, als er angekündigte, im bürgerlichen Bezirk Reinickendorf für das Abgeordnetenhaus zu kandidieren. Bisher galt dieser Verband als Hochburg der Böger-Anhänger. Mittlerweile aber hat sich fast die Hälfte der 20 örtlichen Abteilungen für Momper ausgesprochen, womit dieser nachhaltig in das Wählerpotential des Konkurrenten eingebrochen sein dürfte.

Klaus Böger operiert vorsichtiger angesichts dieser Vorkommnisse. Im Gegensatz zu Momper hat er auch die Abgeordnetenhauswahl fest im Blick und setzt seine moderne Kampagne fort. Der SPD-Fraktionschef chattet regelmäßig im Internet, startet die lang angekündigte Telefonaktion und debattiert mit Journalisten neue Wege zur Selbständigkeit.

Nach 16 Jahren unter einem CDU-geführten Senat zeichnet sich indes ein Wechsel zu den Sozialdemokraten ab. Die Parallelen zum Ende der Ära Kohl sind nicht zu übersehen.

71 Prozent der Hauptstädter erwarten einer neuen forsa-Umfrage zufolge im kommenden Herbst die Abwahl des Regierenden Bürgermeisters Diepgen. Böger und Diepgen sind gleichermaßen beliebt, während Momper weit abgeschlagen ist. Nach unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aufgeteilt, liegt Eberhard Diepgen überraschenderweise bei Arbeitern vorn, während sich die Angestellten und Selbständigen mehrheitlich für Klaus Böger aussprechen. Mit Walter Momper dürften die Sozialdemokraten weit unter ihrem Optimum bleiben, da sich die meisten seiner Anhänger im Osten unter den PDS-Wählern befinden. Der Ex-Regierende gilt überdies als machthungrig.

Eberhard Diepgen, der mit einem an den Kinoschlager "Lola rennt" angelehnten Plakat für sich werben ließ, ist übrigens auch bei den Wählern unter 30 Jahren am beliebtesten. Die Kampagne mußte allerdings eingestellt werden. Der "Lola rennt"-Regisseur Tom Tykwer fühlte sich politisch mißbraucht und erwirkte eine gerichtliche Verfügung gegen das Plakat.


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