© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/99 15. Januar 1999


Musical: "Anatevka" an der Nürnberger Oper fehlt es an Originalität
Auf ewig die Guten und die Bösen
Werner Veith

Päpstlicher als der Papst inszenierte die Nürnberger Oper den Musical-Hit "Anatevka". Gut und Böse stehen sich gegenüber. Die Bösen, das sind die christlichen Russen: betrunken, gewalttätig, besinnungslos Befehlen gehorchend, zur Vergewaltigung neigend – gerade noch zum Volkstanz fähig. Die Guten, das sind die jüdischen Russen: arm, ordnungsliebend, immer fleißig, aber rechtlos.

Den Mythos von den stets verfolgten Juden, den Opfern der Menschheitsgeschichte, arrangierte Regisseur Hansjörg Hack. Dabei verwandelte er russenkritische Elemente des ursprünglichen Musicals in antirussische Plattheiten.

Ein Beispiel: eine Rangelei zwischen jungen Russen und dem jüdischen Mädchen Chava. Im originalen Musicaltext lautet die Regieanweisung: "Fedja, Sascha und ein anderer Russe treten zur gleichen Zeit auf. Sie kommen über die Straße und versperren Chava den Weg in den Laden ...". Es beginnt ein Wortwechsel mit dem jüdischen Mädchen Chava.

"Chava: Würden Sie mich bitte vorbeilassen?

Sascha (stellt sich ihr in den Weg): Warum? Wir möchten Ihnen gratulieren.

Fedja (ruhig): Komm, laß das!

Sascha: Was ist denn los mit dir?

Fedja: Ich sagte, laß das!"

Soweit im jüdisch-amerikanischen Originaltext von Joseph Stein. Was macht die Nürnberger Aufführung daraus? Sascha und ein anderer Russe packen das Mädchen Chava an den Füßen. Laut schreiend wird sie von den beiden Jungen von der Bühne geschleift. War das eine Vergewaltigung?

Lediglich kleine Episoden des Musicals handeln von Christen und Juden Anatevkas, einem Dorf im zaristischen Rußland um 1905. Der weitaus größte Teil spielt sich innnerhalb der jüdischen Gemeinschaft ab – und zeigt die Rebellion der jugendlichen Töchter gegen die jüdische Tradition. Der Kulturkampf zwischen Alt und Jung entzündet sich bei der Auswahl des Bräutigams. Mit Hilfe der Heiratsvermittlerin Jente ist Familienoberhaupt Tewje (Heinz-Klaus Ecker) auf der Suche nach drei wohlhabenden Hochzeitern.

Hier deutet sich bereits das Aufbegehren gegen den von der Religion durchtränkten Alltag an. Ein Konflikt, der bis heute zwischen strenggläubigen und weltlichen Juden gärt, besonders in einigen Städten Israels.

Das Orchester unter der Leitung von Karsten Huschke spielte zwar besser als die wirklich schlechte CD-Aufnahme von Duchesse (CD 352075) – von der Leichtigkeit der leichten Muse war aber wenig zu spüren. Vielleicht unterschätzt man in Nürnberg einfach den Aufwand für eine spritzige Musical-Aufführung? Oder man übersieht die Eigenarten eines Musicals im Unterschied zur Oper oder Operette? Nach sieben Jahren Musical-Abstinenz in Nürnberg ist das nicht ganz verwunderlich. Ein Opernstar verfügt nicht automatisch über die schauspielerische Fähigkeit, den witzigen philosophierenden Milchmann Tewje zu spielen. (Auch ein guter Schriftsteller muß nicht immer ein unterhaltsamer Boulevardjournalist sein.) So leicht läßt sich eben nicht an den Erfolg am New Yorker Broadway anschließen, wo "Anatevka" mit über 3.000 Aufführungen die Kassen füllte. Wenn auch Kammersänger Ecker mit seiner Baßstimme voll überzeugen konnte, so blieb doch das Komödiantische an der Figur des Tewje unterbelichtet.

Auch dem Bühnenbild von Robert Geiger fehlte es an Originalität. So blieb es beim Versuch, ein armseliges Dorf auf die Bühne zu bringen – mit Hilfe von fabrikneuen Holzhütten, die nach Fertigbau anmuten.

Vielleicht lähmte der Auschwitz-Komplex die Kreativität und den Schwung während der Premiere. Jedenfalls war es keine mutige Aufführung. Und es gäbe doch Alternativen – neben der sehr unterhaltsamen jüdisch-amerikanischen Broadway-Variante. Wenn man schon einen kritischen Bezug zur Gegenwart skizzieren möchte, dann müßte man darauf verzichten, das Musical in ein schwarzweißes Weltbild zu pressen. In jedem Fall sollte das simple Schema – gute Juden, böse Christen – einer differenzierten und facettenreicheren Sichtweise weichen. Einen Ausgangspunkt könnten die Thesen der jüdischen Philosophen Max Horkheimer und Theodor Adorno bilden: "Die Juden waren Kolonisatoren des Fortschritts ... Sie trugen kapitalistische Existenzformen in die Lande und zogen Haß derer auf sich, die unter jenen zu leiden hatten."

Dann ließe sich auch ein anderer Bühnenhintergrund wählen: ein deutscher Flüchtlingstreck aus dem Osten; oder eine Phototapete vom zerstörten West-Beirut; oder ein sowjetisches Vernichtungslager unter der Leitung von Leo Trotzki und anderen jüdischen Bolschewisten wie Swerdlow oder dem Geheimdienstchef Felix Dserschinski.

 

"Anatevka" steht bis Ende Juli auf dem Spielplan des Nürnberger Opernhauses, Richard-Wagner-Platz 2. Kartenreservierungen unter Tel. 0911 / 231 38 08


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