© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/99 15. Januar 1999


Kino: "Alice & Martin" von André Téchiné
Frei von jeder Botschaft
Ellen Kositza

Der junge Martin (Alexis Loret) ist auf der Flucht. Nachdem er Hals über Kopf sein Elternhaus verlassen hat, streunt der nur knapp Volljährige wochenlang gehetzt und ziellos durch Frankreich. Schließlich sucht er seinen Bruder Benjamin (Mathieu Amalric) in Paris auf. In dessen Wohnung trifft er zunächst nur auf die ihm bislang unbekannte Alice (Juliette Binoche).

Die Violinistin ist Benjamins Lebensgefährtin, dies jedoch in einem weiter gefaßten Wortsinne, sie leben miteinander und teilen sich ein Bett, doch sexuell bevorzugt Benjamin Männer, während sich die äußerlich so reif und eher bieder wirkende Alice mit kurzen Abenteuern vergnügt.

In diese Skizze nachstudentischen Großstadtlebens platzt nun der hübsche Martin, der eigentlich nur Seele ist, dabei scheinbar großäugig-naiv und von seinem Verhalten her schlicht etwas daneben. Martin schweigt viel, möchte weder über den Grund seines Weglaufens noch überhaupt von sich selbst reden. Während der rätselhafte Halbwüchsige heimlich jeden Schritt von Alice durch Paris verfolgt, wird er von einer Modell-Agentin angesprochen und startet seltsam ungerührt und im Grunde teilnahmslos eine beispiellose Karriere als Dressman, die ganze Stadt ist bald gepflastert mit Martins Gesicht. Der junge Star denkt jedoch nur an eine, an Alice, die er als eine Mutterfigur zu vergöttern scheint. Nachdem Alice zunächst ablehnend und beunruhigt reagiert, läßt sie sich schließlich doch auf eine Liebesbeziehung zu Martin ein, eine Verbindung, die beide bald so vollkommen gefangen nimmt, daß die Außenwelt keine Rolle mehr spielt.

Der Bruch kommt plötzlich: Als Martin in Andalusien für einen Werbespot Modell steht, eröffnet ihm Alice, daß sie schwanger ist – woraufhin Martin in ein Koma fällt. Als er aufwacht, ist nichts mehr, wie es war. Möglicherweise hat er vor seinem Eintreffen in Paris ein schweres Verbrechen begangen, Schuld und Sühne sind es jedenfalls, mit denen sich das Paar auseinanderzusetzen hat. Während der Junge wie paralysiert und eigentlich lebensunfähig die einsame Hütte in Spanien, in der beide sich einquartiert haben, allenfalls zu stundenlangen Meerbädern verläßt, begibt sich Alice auf die Reise in Martins Vergangenheit...

Insgesamt ist es eine eigenartige Geschichte, die hier erzählt wird. Den an mancher Stelle unausweichlich scheinenden Weg einer tiefenpsychologischen Analyse erspart Téchiné dem Zuschauer glücklicherweise, andererseits ist dasVerhältnis von Alice und Martin jedoch zu speziell, als daß ein tatsächliches Mitgehen möglich wäre. Im Hintergrund steht dabei keine Moral und nicht einmal eine Botschaft – das ist selbst in künstlerischen Filmen wie diesem eher rar und macht "Alice & Martin" um so merkwürdiger.

Um ein vielbemühtes Bonmot abzuwandeln, wäre vielleicht zu kritisieren, man könne über alles einen Film drehen – aber nicht über zwei Stunden. Tatsächlich wäre wenigstens im letzten Filmdrittel weniger mehr gewesen, vor allem, weil hier der zuvor eher zauberische Erzählton, der eine fast obsessive Liebesbeziehung schildert, mitunter zu mitleidiger Betulichkeit zu verkommen droht. Was den Zuschauer anderthalb Stunden in eine gleichsam verstörte, bizarre Atmosphäre versetzt, wird gegen Ende leider ein wenig zäh. Und doch bleiben, gerade im Grau trüber Wintertage, im Kopf zumindest die Bilder vom flirrenden Andalusien.

Der Film "Alice & Martin" startet bundesweit am 21. Januar in den Kinos.


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