© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/99 15. Januar 1999


Bruce Springsteen: Der "Boss" veröffentlichte die "Alternativ-Version" seines Lebens
Aus dem Bergwerk geholt
Holger Stürenburg

Nachdem Bruce Springsteen, der von seinen Anhängern liebevoll als "The Boss" bezeichnet wird, in den 90er Jahren nicht allzuviel Kreativität an den Tag gelegt hat und seine CD-Veröffentlichungen in dieser Dekade an einer Hand abzuzählen sind, überraschte er kurz vor Weihnachten seine Fans mit "neuem" Material, das jedoch so neu gar nicht ist. Für ein umfangreiches 4-CD-Set ("Tracks", SONY Music) suchte er laut eigener Aussage aus über 300 unveröffentlichten Songs 64 rare Lieder aus den Jahren 1972 bis 1995 aus, von denen 56 bislang nicht veröffentlicht wurden, während der Rest hauptsächlich von viel gesuchten Single-B-Seiten oder Promotion-Platten stammt.

Somit ist Springsteen zur Jahreswende 1998/99 wieder in aller Munde, Titelthema in den wichtigsten Musikblättern von ME/Sounds bis Rolling Stone, Interviewpartner im Spiegel, Kritikerliebling in allen Feuilletons. Nach einem Vierteljahrhundert Karriere, so Spring-steen im Spiegel, sei es Zeit gewesen für die "Alternativ-Version" seines Lebens.

Auf diesen vier CDs, begleitet von einem liebevoll aufbereiteten und sehr informativen über 80seitigen Beiheft, kann sowohl der Fan als auch der Spätgeborene feststellen, daß viele Boss-Hymnen, die bislang nicht erhältlich waren, sondern in einem, so der Künstler, "zu einem Archiv umgebauten alten Bergwerk" lagerten, in vielen Fällen tatsächlich "tougher than the rest", will heißen oft besser als die realen Hits des "Kleine-Leute-Elvis" (Spiegel) aus New Jersey waren und sind.

Dylan-mäßig, akustisch begann Springsteen seine Karriere und präsentierte auf der ersten von vier "Tracks"-CDs Solo-Fassungen späterer Hits wie "It’s hard to be an Saint in the City" oder "Growin’ up". Mitte der 70er Jahre kam die legendäre E-Street-Band (von der Gitarrist "Little Steven" van Zant und Saxophonist Clarence Clemons größtenteils für den perfekt aufeinander eingestimmten Sound verantwortlich waren) hinzu und verlieh Springsteens klassischen Blues- und Rock’n’Roll-Kompositionen einen vollen, unverwechselbaren Klang. Viele der 70er-Lieder entstammen den Aufnahmetreffen der LPs "Ashbury Park" und "Born to Run" und tönen in vielen Fällen sogar kraftvoller als das später regulär veröffentlichte Material ("Give the Girl a Kiss" oder "So young and in Love").

Das Material der zweiten CD stammt vor allem aus den Sessions zur Doppel-LP "The River", die den "Boss" in Deutschland bekannt machte und bei deren Aufnahmen Produzent "Little Steven" vor allem auf klassische Rock’n ’Roll-Klänge der 50er Jahre gesetzt hatte. Auch thematisch waren viele Texte von Jugenderinnerungen und romantischer Seligkeit der Nachkriegsära geprägt ("Where the Bands are" oder "Mary Lou"). Bekannteste Hits von "The River" waren seinerzeit der Mitklatsch-Stampfer "Hungry Heart" und der schnelle Rock’n’Roll "You can look (but you better not touch)". Bereits bekannt von CD 2 ist die oft gesuchte Single-B-Seite "Johnny, bye bye", für die Springsteen einen Rock’n `Roll-Klassiker von Chuck Berry bearbeitet und mit neuem Text versehen hatte, und die "damals" (1985) der eigentliche Grund war, weshalb man sich die Single "I’m on Fire" noch zusätzlich zum "Born in der U.S.A."-Album zulegte. Diese künstlerisch hervorragende LP sorgte dafür, daß dem "Boss" 1984/85 weltweit der (kommerzielle) Durchbruch gelang.

Es enthielt eine Mischung aus romantischen Rockhymnen wie "Bobby Jean" oder "Glory Days" neben Gänsehaut-Balladen wie jenes "I’m on Fire" sowie immer wieder gern gehörte Poprocker der Sorte "Dancing in the Dark". Von zwölf Albumliedern wurden allein acht als Single ausgekoppelt, von der eine die andere an Erfolg noch übertraf. Das Titellied jenes Albums werden einige bereits auf Springsteens 96er-Solo-Tournee erstmals als düster-depressive Akustikballade – nur mit Gitarre und Mundharmonika gespielt – gehört haben. Auf der zweiten "Tracks"-CD ist diese unter die Haut gehende Fassung der oft mißverstandenen Rockhymne über einen heimkehrenden Vietnamkämpfer ebenfalls zu hören.

Je näher die "Born in the U.S.A."-Periode rückte, desto kommerzieller wurden Springsteens Lieder. Allerdings – so kann man auf der dritten CD deutlich hören – bedeuten in diesem Fall hohe Verkaufsmöglichkeiten keine künstlerische Schwäche oder Flachbrüstigkeit. Die Lieder aus den Aufnahmesessions jenes Albums von 1983 sind die treibendsten und tanzbarsten Stücke der gesamten Kollektion. In später nicht veröffentlichten Lieder wie "This Hard Land", "TV Movie" oder "Rockaway the Days" verband Springsteen 50er-Jahre-Rückblicke mit 80er-Jahre-Zynismus, so daß man sich fragt, weshalb nicht anstelle eher schwacher Album-Tracks wie "I’m going down" Hymnen wie die eben genannten ihren Platz auf dem regulären Album fanden. Das Herz eines jeden Springsteen-Anhängers dürfte der "Tracks"-Track "Jamey, don’t you lose my Heart" erweichen. Von dieser Single-B-Seite von "I’m going down" hat nicht nur der Musikexpress behauptet, daß diese treibend-romantische Gitarrenballade eines der "besten Stücke" sei, die Springsteen "jemals geschrieben" habe.

Bekanntlich hatte Springsteen mit "Born in the U.S.A." zumindest seinen kommerziellen Zenit erreicht. Sein 87er-Album "Tunnel of Love" kam nicht annähernd an dessen Verkaufszahlen heran und klang auch merkwürdig müde und unausgegoren. Ausschließlich die beiden damaligen Singles "Brilliant Disguise" und "Tougher than the Rest" konnten auf den unteren Plätzen der Top 75-Listen landen.

Zu Beginn der 90er konnte man oft lesen, Springsteen habe in dieser Dekade nichts mehr zu sagen. Seine beiden Alben "Human Touch" und "Lucky Town" enthielten zwar recht amüsante Romantik-Rocker, wirkten aber oft wie ein müder Abklatsch früherer Erfolge. Auch die Session-Lieder der vierten "Tracks"-CD beweisen dies; irgendwie schien die Luft raus.

Ausklingen tut "Tracks" mit einigen Liedern aus den Aufnahmen von Springsteern düsterem letzten Album "The Ghost of Joad", das zwar die Kritikerherzen höher schlagen ließ, aber beim Mainstream-Publikum keinen Gefallen finden konnte. Hier sang Springsteen, nur von Akustik-Gitarre und Mundharmonika begleitet, morbide Hymnen, angelehnt an Kurzgeschichten des amerikanischen Schriftstellers John Steinbeck.

Eine Schwäche der 90er-Aufnahmen sowohl auf seinen regulären Alben als auch auf diesem CD-Set mag das Fehlen der E-Street-Band sein, die der "Boss" Ende der vergangenen Dekade entlassen und sich statt dessen namenlose Studiomusiker ins Haus geholt hatte. Zwar hat kein einziger E-Street-Musiker auch nur eine Komposition für Springsteen geschrieben, so war es aber eine besondere Fähigkeit dieser Band, daß nicht nur jeder einzelne Musiker auf den anderen, sondern vor allem auch die Truppe in ihrer Gesamtheit auf ihren "Boss" eingeschworen war, so daß fast alle Aufnahmen von Springsteen und seiner Band wie eine perfekt aufeinander eingestimmte Einheit klingen.

All dies hat man in den 90er Jahren sehr vermißt, zumal es zwischen 1990 und heute mit der Ballade "Streets of Philadelphia" nur einen (zumindest was die Verkaufszahlen betrifft) großen Hit von Springsteen gab.

Zwar wurde in den vergangenen Jahren immer wieder von einer Wiedervereinigung von Springsteen und seiner E-Street-Band gesprochen, dies von vielen auch sehr erhofft, aber voraussichtlich dürfte es noch länger dauern, bis der inzwischen fast 50jährige Springsteen mit seiner alten Band wieder auf Tournee geht.


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