© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/99 22. Januar 1999


Joachim Schäfer (Hrsg.): Kurswechsel. Stimme der Mehrheit
Der Zeitgeist irrt immer
Menno van Heeckeren

Jeder hat also die Freiheit, anders zu denken, als es der Zeitgeist mal gerade empfiehlt. Genaugenommen hat der Zeitgeist sich zu allen Zeiten geirrt." Man lese es und staune: Anno 1998 kann sich ein bekennender Konservativer zu einer solchen Auffassung versteigen. Handelt es sich hier um eine reductio ad absurdum oder um einen seriösen Versuch, den Konservatismus neu zu erfinden? Auf diese Frage bleibt uns der Sammelband "Kurswechsel. Stimme der Mehrheit" die Antwort leider schuldig. Auch Ingo Resch, Verfasser des Beitrags "Hoffnung oder Skepsis" und Urheber des aufgeführten Zitats, kann hier nicht weiterhelfen. Statt dessen versucht er sich im weltanschaulichen Spagat; er lehnt zwar den selbstzerstörerischen Skeptizismus der (Post)68er-Generation strikt ab, gleichzeitig entzieht er aber – in seiner Abrechnung mit dem Phänomen des "Zeitgeistes" – der eigenen Argumentation den Boden. Wer dem Skeptizismus durch positive Rückbesinnung auf die Tradition gegensteuern will, sollte sich mal überlegen, ob "Tradition" im Grunde etwas anderes heißt als die Summe der "Zeitgeiste", die eine Nation historisch geprägt haben.

Damit ist schon das Grundproblem dieses Aufsatzbandes erwähnt, der sich laut eigenem Anspruch gegen das "Linkskartell innerhalb der schreibenden Zunft" richtet. Es stellt sich die Frage, ob die positiven Inhalte dem Konservatismus dermaßen abhanden gekommen sind, daß er sich nur noch subversiv – gegen die moralistischen, "politisch-korrekten" Diskurse gewendet – verstehen kann. Obwohl fast alle Beiträge des Sammelbands im Rahmen dieser Problematik gelesen werden können, wagt es keiner der Autoren, sie offen auszusprechen. Statt dessen bleibt es bei einer etwas dürftigen Polemik gegen die allgegenwärtige politische Korrektheit in den Medien. Der Begriff political correctness wird dabei von manchen Autoren so weit überstrapaziert, daß er schon fast den Charakter eines Totschlagearguments gewinnt, ganz nach dem Muster der linksliberalen "Faschismuskeule". Das ist fürwahr keine Empfehlung für einen Sammelband, dessen hochgestecktes Ziel es ist, das Meinungsklima von seiner Stickigkeit zu befreien.

Positiv dagegen ist die Vielfalt der Perspektiven, mit der sich die Autoren voneinander unterscheiden. Zunächst ist hier der Beitrag des Herausgebers selber, Joachim Schäfer, zu erwähnen. Schäfer, Hauptgeschäftsführer des Bundes der Selbständigen in Nordrhein-Westfalen und Initiator der 1996 gegründeten Vereinigung "Stimme der Mehrheit", geht in seinem Beitrag scharf mit den "PC-Protagonisten" ins Gericht. Neben anderen Beispielen ruft er noch mal die unglückselige "Heitmann-Episode" in Erinnerung. Das Scheitern dieses Präsidentschaftskandidaten dokumentiert in unseliger Weise, wie es denjenigen ergeht, die sich nicht mit den üblichen Betroffenheitsritualen abgeben. Heitmann scheiterte; nicht wegen Unfähigkeit, sondern durch seine Unerfahrenheit mit den Gepflogenheiten der westdeutschen Medien. Wegen seiner Ansicht, daß Deutschland nicht wegen seiner Geschichte auf unabsehbare Zeit in eine Sonderrolle gedrängt werden sollte, wurde er gnadenlos niedergesäbelt; der Spiegel warf ihm sogar Nähe zum Rechtsextremismus vor.

Der Fall steht nicht für sich da, mehrere Autoren dieses Sammelbands setzen sich mit der in Deutschland gängigen "Praxis der Unterstellung" (Kurt Sontheimer) auseinander, nach der jedem, der politisch korrekte Tabus verletzt, moralisch fragwürdige Absichten unterstellt werden. Wie berechtigt die geübte Kritik an dieser Praxis auch sein mag, sie deutet noch nicht auf einen "Kurswechsel". In dieser Hinsicht kranken die meisten Beiträge an einer gewissen Einseitigkeit; sie artikulieren nur den Überdruß an moralisierenden Diskursen, ohne dem irgendwelche zukunftsweisende Perspektiven entgegenzusetzen. Gerade das hätte man jedoch von selbstbewußten konservativen Meinungsführern erwarten dürfen, zumal in einer Zeit, in der der Konservatismus vor solchen dringenden Herausforderungen steht. Leider bleiben viele Fragen ungeklärt; sie werden oft nicht einmal angesprochen. Jedoch kann ein moderner Konservatismus nicht umhin, die Frage nach dem Verhältnis von Nation und Globalisierung; von Staat, Gesellschaft und Individuum eingehend zu analysieren. Die Autoren von "Kurswechsel" lassen hier Perspektiven vermissen. Aus vielen Beiträgen spricht eine ideologisch festgelegte Marktgläubigkeit, die latente Widersprüche verdeckt. So ist es nicht folgerichtig, den Markt einerseits als Garanten für eine freiheitliche Demokratie zu feiern und andererseits den Egoismus von Individuen und Verbänden anzuklagen. Das ist aber im großen und ganzen die These, die Eberhard Hamer in seinem Beitrag "Verlust der Mitte in Wirtschaft und Gesellschaft" vertritt.

Auch fehlt die Einsicht, daß der Markt "an sich" keine Tugenden begründet, sondern bestenfalls von einem intakten Rechts- und Moralbewußtsein parasitiert. Die schottischen Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts, unter ihnen Adam Smith und Bernard de Mandeville, formulierten ihre These, daß der Individualegoismus der einzelnen Marktteilnehmer kollektiven Nutzen stifte, nur unter der Voraussetzung, daß über gesellschaftliche Basiswerte wie Treue, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit Einverständnis besteht. Der Kapitalismus, weit davon entfernt, selber Werte zu begründen, profitierte sozusagen von den moralischen Ressourcen des damals noch intakten Christentums. Hamer nun scheint in seinem Beitrag einem gängigen Vorurteil des westlichen Denkens erlegen zu sein; nämlich dem Vorurteil, daß Markt, Freiheit und Demokratie gleichursprünglich seien. Nur aus dieser Perspektive läßt sich die These vertreten, daß die Marktwirtschaft selber eine pluralistische und selbstverantwortliche Gesellschaft aufrechterhalten kann.

Gerade in unserer Zeit kann der Kapitalismus jedoch nicht mehr selbstverständlich auf gewachsene Traditionen und feste moralische Strukturen zurückgreifen. Im Gegenteil, anstatt solche Kulturwerte zu fördern, neigt der Markt – in seiner "globalisierten" Gestalt – dazu, sie zu zerstören. Derlei scheint auch Hans-Helmuth Knütter in seinem Beitrag "Gefahren des Linksextremismus" anzuerkennen. Er weist darauf hin, daß, anders als vielfach gedacht wurde, die konservative Rechte nach dem Mauerfall ideologisch in die Defensive geraten sei. Das Ende des Kommunismus markiere nämlich zugleich den definitiven Ausklang der (transzendentalen und weltlichen) Heilslehren. Der Konservatismus, so Knütter, lebe jedoch gerade von einer solchen Idee der "überpersönlichen Bindung". Wenn diese entfällt, so bedeutet das letzlich auch eine Erosion staatlicher Gewalt. Gerade diese Gefahr ist es, auf die Knütter hinweisen möchte. Sie geht aus von einer noch immer dominanten Neuen Linke, die den Schlagwort des "Antifaschismus" als Volksfrontkitt entdeckt hat. Im Rahmen dieses Kampfes gegen eine vermeintliche faschistische Gefahr werden auch arglose bürgerliche Schichten mobilisiert. Diese Strategie, sei Fortsetzung des altlinken Klassenkampfs mit anderen Mitteln. Die "Neuen Sozialen Bewegungen" gegen Atomenergie, Gentechnologie und Rassismus erzielen die gewünschten Solidarisierungseffekte bei (links)bürgerlichen Kräften. Wenn das "Einfangen" solcher Gruppen gelingt, so läßt sich eine linke Meinungsdominanz schleichend etablieren. Anders als die "alte" Linke orientiert sich diese "neue" Linke nicht in erster Linie an dem Staat; man könnte sogar sagen, sie sei staatsfeindlich. Als Zeugen für solche anti-etatistischen Bestrebungen könnte man den jetzigen Bundesumweltminister und früheren KB-Aktivisten Jürgen Trittin anführen. In einer Talkshow zum Abschiebestopp für abgelehnte kurdische Asylbewerber ließ sich Trittin folgendermaßen vernehmen: "Wenn man Gesetze bricht, kann das auch ein Ausdruck von Humanität sein."

Das Bedenkliche an solchen Aussagen ist, daß eine sich für moralisch überlegen haltende Linke auf diese Weise demokratisch gefaßte Mehrheitsbeschlüsse außer Kraft zu setzen versucht. Dadurch sieht sich der Staat zwischen zwei Fronten "eingekeilt". Einerseits sind da die entfesselten Marktkräfte, die unter dem Reizwort der "Globalisierung" jedem staatlichen Ordnungsrahmen zu spotten scheinen. Andererseits gibt es die libertär-anarchistische Linke, die staatliche Gesetze per moralisches Dekret aufhebt.

Es liegt hier ein Spannungsfeld bereit, das eine "Neuerfindung" des Konservatismus geradezu herausfordert. So könnte eine Rückbesinnung auf Carl Schmitts dezisionistische Staatsidee der geschilderten Drohung einer "polyzentrischen Herrschaft" der Verbände und Bewegungen begegnen. Leider wird diese Chance in "Kurswechsel" nicht aufgegriffen; die meisten Beiträge sind entweder defensiv oder stark ordoliberal ausgerichtet (was angesichts der Schirmherrschaft, die der Bund der Selbständigen für diesen Band übernommen hat, wohl kaum Wunder nehmen darf ).

Es gibt aber auch Beiträge, die auf angenehme Weise aus diesem Rahmen herausfallen. So legt Klaus Hornung in seinem Aufsatz "Von der Bonner zur Berliner Republik" überzeugend dar, daß die Adenauersche Westorientierung nicht nur die Grundlage für die deutsche Wiedervereinigung geschaffen hat, sondern auch für den außenpolitischen Kurs der Berliner Republik unverzichtbar sein wird. Gerade dem widerspricht Wilfried Böhm, langjähriger hessischer CDU-Abgeordneter und deutscher Vertreter im Europarat. In seinem Beitrag "Deutsche Außenpolitik in der nationalstaatlichen Architektur Europas" nimmt er eine Diskrepanz wahr zwischen dem vollständigen Kollaps der (mittel)osteuropäischen Sicherheitsstruktur nach dem Fall der Mauer und dem fast unveränderten Weiterbestehen des westlichen Verteidigungssystems.

Böhm vertritt die Meinung, daß ein Umdenken dringend geboten ist. In der postkommunistischen Konstellation, so Böhm, wäre eine Aufwertung des Europarats als einziges Gremium, in dem die mittelosteuropäischen Reformstaaten Sitz und Stimme haben, wünschenswert. Dieses Gremium stehe nämlich für eine Kontinuität der nationalstaatlichen Gesamtform Europas. Doch in dieser Hinsicht sollte er sich die Frage gefallen lassen, ob den mitteleuropäischen Staaten nicht mehr an der EU-Mitgliedschaft als an einem unverbindlichen Diskussionsgremium gelegen ist. Auch das nationalstaatliche Argument überzeugt nicht; jede realistische Perspektive für die EU-Osterweiterung würde sowieso einen Abschied vom europäischen Bundesstaat implizieren.

Interessant ist auch der Beitrag Franz Seidlers über "Die Unwahrheit in der Geschichte. Manipulationen, Legenden und Fälschungen". Es geht hier im Grunde um die rückwärtsgewandte Variante der "politischen Lüge". Impliziert diese, in ihrer parteipolitisch motivierten Zukunftsorientierung, ein "strategisches Denken gegen die Wahrheit" (Frank R. Pfetsch), so zielt jene auf eine politisch motivierte Deutung der Vergangenheit.

Ein typisches Beispiel ist der "Gründungsmythos" eines Staates. Viele Staaten gründen ihr Selbstverständnis auf Mystifizierungen, die keiner seriösen Prüfung standhalten. Schwieriger wird es, wenn es um die Beurteilung einer "nationalen Geschichtsschreibung" geht. Sind erzieherische Ansprüche, wie sie Historiker wie Fichte und Treitscke hegten, ohne weiteres als "manipulierend" zu verpönen oder sollten wir uns nicht vielmehr hüten, hier die eigenen positivistischen Maßstäbe absolut zu setzen?

Wenn man die weiteren Texte über Einwanderung, Bildungspolitik und Kriminalitätsbekämpfung betrachtet, ergibt sich zwar eine breite Palette. Trotzdem muß die Gesamtbeurteilung dieses Bandes eher skeptisch ausfallen. Neue Denkanstöße werden zu wenig gegeben und aktuelle Herausforderungen kaum aufgegriffen. Manche Beiträge beschränken sich auf hämische Bemerkungen über Gutmenschentum, ohne Authentisches entgegenzusetzen. Vielleicht liegt in dieser Einfallslosigkeit das Schicksal eines postmodernen Konservatismus…

Joachim Schäfer (Hrsg): Kurswechsel. Stimme der Mehrheit. Universitas Verlag, München 1998, 312 Seiten, 38 Mark


 
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