© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/99 29. Januar 1999


Kolumne:
Anstoß
von Ulrich Schacht

Eines der schönsten Mit-Ergebnisse des Sturzes von Helmut Kohl als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war das Verschwinden von Rita Süssmuth als Präsidentin des Deutschen Bundestages: Am Ende ihrer diesbezüglichen Laufbahn, die ohne den Bismarck-Verschnitt aus Oggersheim weder denk- noch durchhaltbar gewesen wäre, decouvrierte sich ihr öffentliches Reden als vollendete Paraphrasierung aller Mainstream-Phrasen von Fortschritt, Liberalität, Emanzipation, Quoten-Demokratie, Integration, Vergangenheitsbewältigung, Zukunftsgestaltung, Euro und Europa. In diesem Sinne Produkt und Produzentin des Zeitgeistes gleichermaßen, war sie dennoch nur eine von vielen; was ihre Erscheinung im Raum des Politischen aber so unnachahmlich und deshalb unerträglich machte, war die Arroganz der Macht, die sie ausstrahlte, wußte sie doch mit den Jahren nur zu genau, warum sie an die Spitze des Parlaments gekommen war und dort, trotz aller ideologischen Idiotien und materiellen Selbstbedienungseskapaden, auch gehalten wurde.

Nun gut, diese unerfreuliche Dame ist zunächst einmal Geschichte und ihr Nachfolger – der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse – im Amt. Auch Thierse ist kein Sympath auf den ersen Blick, nicht einmal auf den zweiten, verkörperte er bislang doch jenen Typus der ostdeutschen Sozialdemokratie, der sein ein- und angepaßtes Leben in der DDR, was hier nicht überkritisch gemeint ist, sogleich als Erfolgsmethode innerhalb der westdeutschen SPD anwandte. Eine Art Überkompensationsspezialist in Sachen lafontainisierter Parteiidentität, der damit ja auch gut vorangekommen ist. Doch je öfter man diesen Wolfgang Thierse in seinem neuen und hohen Amt agieren sah und hörte, um so deutlicher wird der Unterschied zu seiner Vorgängerin, und es scheint so, daß der normale, natürliche Teil dieser Differenz bereichert wird um einen prinzipiellen, der die Konsequenz einer anderen politischen und geistigen Sozialisation ist.

Am deutlichsten wurde dies bislang in Thierses Aufruf, in den Schulen der wiedervereinigten Nation verstärkt klassisches Bildungsgut zu berücksichtigen. Goethe allemal! Aber eben auch, und das ist nun wirklich bemerkenswert: die Schriften der Bibel, denn ohne eine gewisse Kenntnis des Alten und des Neuen Testaments könne man sich in seiner deutschen und europäischen Identität kaum verstehen, geschweige denn begreifen. Bleibt zu hoffen, daß dieser Anstoß Thierses keine Marginalie im Rahmen seiner weiteren Amtsführung wird, sondern Beginn eines prinzipiellen Anstößig-Seins des Mannes auf dem zweithöchsten Stuhl der Republik.


 
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