© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/99 29. Januar 1999


Kriminalität: Krieg in den Städten weitet sich aus
Urbane Gewalt
Alain de Benoist

Brennende Autos, Aggressionen, Verstöße gegen das Gesetz, Lehrerstreiks: die immer schlimmer werdende Gewalt in den Schulen, die ständig steigende Jugendkriminalitätsrate (+ 12,18% in 1998), die Unsicherheit und Kriminalität auf den Straßen, die den Ärger der Bürger hervorrufen, all diese Phänomene bringen einen Teil der Linken zur Zeit zu der Erkenntnis, daß Sicherheit ein Allgemeingut ist – daß sie mit anderen Worten im allgemeinen Interesse liegt und nicht bloß in dem einiger weniger. Diese plötzliche Erkenntnis mag nicht ganz frei von Heuchelei sein. Zum einen verkennt sie zu häufig, daß es sich bei städtischer Gewalt heute vor allem um eine Folgeerscheinung der Einwanderung handelt. Andererseits richtet sie sich auf einzelne Auswirkungen und hütet sich sorgsam, nach tieferen Ursachen zu fragen.

Daß die Massenarbeitslosigkeit und die soziale Ausgrenzung ursächlich mit der Gewalt in den Städten zusammenhängen, ist offenbar unzweifelhaft. Aber dies zu sagen, heißt nicht viel: daß die Delinquenten zuweilen selbst Opfer sind, tröstet die Opfer dieser Opfer nicht. Die traditionelle Wahl zwischen Verhütung und Bekämpfung hat aus dieser Perspektive wenig Sinn. Diese beiden Bereiche beeinträchtigen sich ständig gegenseitig, und ihre Akteure sind oft dieselben. Das Verhütungskonzept wird allerdings von den Sanfteren unter ihnen vertreten. Sie flüchten sich gerne in die Bildungs-, Wohnungs-, Familien-, Gesundheitspolitik usw. und leiten daraus schnell eine Zauberformel ab, die keiner wirklichen Lösung entspricht. Daß es mehr Härte, mehr Kontrolle, mehr Bestrafungen bedarf, läßt sich also nicht bezweifeln. Aber wenn man es dabei bewenden läßt, zu einem Zeitpunkt, wo die Haushalte der Polizei und der Justiz ins Unendliche wachsen, ohne der Gewalt Einhalt bieten zu können, während der Markt für private Sicherheitsunternehmen explodiert, wird der Strafjustizvollzug weiterhin kaum mit der schwindenden Verantwortungsbereitschaft Takt halten können.

In Wahrheit werden heute die Früchte eines großflächigen gesellschaftlichen Wandels geerntet, der systematisch die Grundlagen sozialen Zusammenhalts zerstört hat. Dieser Wandel geht auf den Ursprung der Moderne selbst zurück. Durch die Überbewertung des Neuen hat diese eine Kluft zwischen den Generationen geschaffen und alles Traditionelle entwertet. Sie zeichnete sich dadurch aus, daß sie alle traditionellen Regeln als künstliche Konventionen erscheinen ließ. In den Mittelpunkt ihres Weltbildes hat sie ein Individuum gerückt, das seiner sämtlichen Einbindungen beschnitten wurde. Sie hat zur Erosion aller organisch gewachsenen Strukturen geführt, die die Menschen schützten und ihr Verhalten lenkten.

Indem sie sich dem Individuum verpflichtete und sich dabei einbildete, "neutral" zu sein, hat die Moderne vor allem die Verinnerlichung von Regeln verhindert. Mehr und mehr wurden verinnerlichte Regeln durch Gesetze ersetzt, die versuchten, das Verhalten lediglich von außen zu kodifizieren oder zu regeln. Doch die Regeln des Zusammenlebens sind nur dann wirksam, wenn sie verinnerlicht sind. Gesetze haben nur dann einen Sinn, wenn die Mehrzahl der Mitglieder einer Gesellschaft von sich aus der Meinung ist, es sei besser, sie zu achten, als sie zu umgehen. Da man jedoch nicht hinter jeden gesellschaftlichen Akteur einen Polizisten stellen kann, erweisen sich Verbrechensbekämpfung und -verhütung gleichermaßen als vergeblich, wenn niemand mehr die Regeln respektiert.

Diejenigen, die die Straßen unsicher machen, leben heute in einer Welt, deren zeitlicher Horizont sich auf den Moment beschränkt. Ihre Werte sind ein Gemisch aus konsumorientiertem Individualismus und einem Herdenverhalten, das auf der Verteidigung des Territoriums und der "Ehre" der Gruppe basiert. Unter diesen Bedingungen des Verlustes aller Bezugspunkte, wo das Gefühl gesellschaftlicher Nutzlosigkeit vorherrscht, stellt die Gewalt für die Delinquenten nicht bloß einen Lebensstil dar, sondern wird zur Quelle ihrer Identität und Anerkennung, ein Mittel, um jenen "Respekt" zu erlangen, mit dem ihre Sprache gespickt ist.

Doch man darf sich davon nicht täuschen lassen: Ihre Gewalttätigkeit ist alles andere als eine Revolte gegen die Gesellschaft, vielmehr im Gegenteil eine brutale Art und Weise der Identifikation mit den Vorbildern, die diese anbietet. Paradoxerweise sind die "Vandalen" sogar Aushängeschilder der liberalen Logik. Was sie anzieht, ist die Mode, das schnelle Geld, der Profit, der schöne Schein und das Gesetz des Dschungels. Weit davon entfernt, die Marktwirtschaft in Frage zu stellen, möchten sie sich mit Gewalt darin integrieren, ohne dafür arbeiten zu müssen. So gesehen, ist die Gewalt, die in den Städten tobt, nichts anderes als die Spitze eines Eisbergs, an dem die großen Raubtiere der Gesellschaft und die Steuerbetrüger genauso teilhaben wie jeder kleine Straffällige.


 
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