© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/99 29. Januar 1999


Drama: "Phädra" im neueröffneten Schloßtheater Dresden
Das unanständige Verlangen
Uwe Ullrich

Provisorien halten sich oft lange Zeit. Manche überdauern 40 Jahre und verschwinden dann von der Bildfläche. Die meisten Menschen sind froh, daß der Zustand überwunden ist. Das frühere "Kleine Haus" des Staatsschauspiels Dresden an der Glacisstraße (zwischenzeitlich Togliattistraße) diente mehr als fünf Jahrzehnte dem Ensemble als Spielstätte. An dieses Provisorium gewöhnten sich die Dresdner Theaterbesucher. Etwas wehleidig erwarteten sie die Wiedereröffnung des vertrauten Hauses. Aber dann möchte man vielleicht das gegenwärtige Provisorium, die notdürftig ausgebaute und bescheidene Aufführungsmöglichkeiten bietende Heinrich-Schütz-Kapelle im Dresdner Stadtschloß der Wettiner nicht mehr missen. Es bedarf eines guten Orientierungssinnes, um das zu Beginn dieses Jahres eröffnete "Schloßtheater"' zu finden. Weiß der Besucher erst einmal, daß er den Eingang zum Hausmannsturm nehmen muß, um ans Ziel zu gelangen, umfängt ihn bald der rauhe Charme der neuen Spielstätte. Ungefähr 200 Zuschauern, weniger als die Hälfte der früheren Sitzplatzkapazität, bietet der Raum in der Kellerebene Platz.

Am 9. Januar fand die erste Vorstellung im Schloßtheater vor ausverkauftem Haus statt. Die Premiere war die erste deutschsprachige Inszenierung des Stückes "Der Würgeengel". Der bekannte niederländische Dramatiker und Regisseur Karst Woustra, der unter anderem auch in Schweden und der Schweiz arbeitet, orientierte sich am berühmten gleichnamigen Film Luis Bunuels. Das Stück zeichnet ein faszinierendes Gesellschaftsbild der neunziger Jahre.

Am Sonnabend der folgenden Woche lud das Staatsschauspiel erneut zu einer Premiere ein. Auf dem Spielplan stand Jean Racines (1639– 1699) Version der "Phädra" an. Der griechische Trägödiendichter Euripides und der römische Philosoph Seneca lieferten die bedeutendsten Vorlagen des Dramas. Einige entscheidende Eingiffe in die überlieferten Texte kündigte Racine in seiner Vorrede zum Stück an. War bei Euripides das dramatische Gleichgewicht zwischen den beiden Hauptfiguren Phädra und Hippolytos gewahrt, richtet sich Racines Interesse und Hauptaugenmerk auf die weibliche Protagonistin. Die Uraufführung des Stückes in fünf Akten fand am Neujahrstag 1677 in Paris statt; es ist Racines letztes Theaterstück und zeugt von dessen Höhepunkt dichterischen Schaffens. Der frühwaise Jansenitenschüler versteht es, die gegen ihn inszenierten Ränke zu zerstören. In seinen letzten zwanzig Lebensjahren wird er Geschichtsschreiber Ludwig XIV., des "Sonnenkönigs" der Franzosen.

Noch bleibt einige Zeit bis zum Veranstaltungsbeginn, um das Bühnenbild in sich aufzunehmen. Eine schmuddelig- graue Hauswand begrenzt den Bühnenhorizont. Eine leichte Jalousinentür, aus dem mediterranen Raum bekannt, bildet ihre einzige Öffnung. Vor der Wand breiten sich im rot-weißen Muster verlegte Fußbodenplatten aus. Fehlstellen betonierte man einfach aus. Der dargestellte Raum könnte das Atrium eines Gebäudes sein. Oder vielleicht ein heruntergekommener Umkleide- und Duschraum. Der verloren auf der Bühne stehende Spind deutet darauf hin.

Vor dem königlichen Palast von Troizen bekundet der mit einer Motorradrockerkluft bekleidete Hippolytos (Marian Bulang)– Sohn des Theseus und der Amazonen-königin Antiope – seinem langjährigen Erzieher Theramenes (Hanns-Jörn Weber), sich auf die Suche nach dem lange vermißten Vater zu begeben. Gleichzeitig vertraut die zweite Gemahlin des athenischen Königs, Phädra (Andrea Thelemann), ihrer Zofe und Vertrauten Önone an, daß sie leidenschaftlich in den Stiefsohn verliebt sei. In dieser Situation trifft die Kunde von Theseus’ Tod ein. Nun, so meint Phädras Vertraute (Tatjana Wehmeier), wäre die Liebe zum Stiefsohn kein Frevel, keine Sünde mehr. Nachdem sich die Königin dem geliebten Hippolytos offenbarte, gesteht dieser seine verbotene Liebe zu Arika, Prinzessin aus dem früher herrschenden athenischen Königshaus.

Das Unheil nimmt seinen Lauf, als der totgeglaubte Theseus (Lars Jung), der König von Athen, zurückkehrt. Nach und nach erkennt der Herrscher die scheinbaren Zusammenhänge, verflucht seinen Sohn und erbittet die Mithilfe Neptuns für dessen Vernichtung. Des Königs Fluch erfüllt sich, Phädra nimmt Gift – nach beider Tod erkennt erst Theseus die wahren Begebenheiten.

Einige Details der Inszenierung erscheinen nicht stimmig. Zum Beispiel wird ein Athener keine römischen Gottheiten anrufen. Die Kostüme, für die Ursula Müller verantwortlich zeichnet , sind ein Sammelsurium zwischen Nachthemd (Phädra), strenger Internatskleidung der Arika und der an die Uniform eines Militärs erinnernde Bekleidung des Königs Theseus. Regie führte Tobias Wellemeyer.

Das Stück "Phädra" ist arm an Bewegung. Der Reichtum, die Anregung liegt in den in Worte gefaßten Motivationen, begründet Handlungen und deckt Ursachen auf. Im Dialog offenbart sich der Schlüssel zu Hinter- und Abgründen der agierenden Personen auf der Bühne. Die neue Übersetzung von Simon Werle nahm dem Original etwas von seiner barocken Überladenheit, behielt aber die hohe Sprachkultur bei.

Schlag auf Schlag laden in den kommenden Wochen Premieren zum Besuch im Schloßtheater ein. Andrea Thelemann wird erstmals Lieder von Kurt Weill unter dem Titel "Ich bin, weil ich bin" interpretieren, und Anfang Februar folgt mit Johann Wolfgang von Goethes "Iphigenie auf Tauris" erneut eine Klassikerinszenierung.


 
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