© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/99 19. Februar 1999


Jugendgewalt: Gespräch mit der Gubener Pfarrerin Irene Brockes
"Wir haben es nicht verhindert"
Dieter Stein

Was für ein Gefühl haben Sie und die Menschen in Guben nach dem Tod des jungen Algeriers?

Brockes: Das ist nur mit einem Schock zu vergleichen. Man weiß nicht, was man davon halten soll, und ist entsetzt, daß dies mitten unter uns passiert. Vielleicht kennt man die Jungs sogar, die das getan haben. Man hat es nicht verhindern können. Am schlimmsten dran sind die Leute die direkt am Tatort wohnen und denen vorgeworfen wird, sie hätten nichts gemacht.

Das stimmt nicht?

Brockes: Nein. Sie haben viel Mut bewiesen, sie haben dem Opfer geholfen, aber der Mann war zu schwer verletzt.

Worauf führen Sie die Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen zurück?

Brockes: Da gibt es viele Gründe. Für manche ist es Langeweile, die Sucht nach irgend etwas, womit man seine Zeit füllen kann. In der Schule ist der Leistungsdruck entweder zu gering oder zu hoch. Viele Jugendliche sagen sich: Aus mir wird sowieso nichts. Die brauchen mich nicht. Sie wissen nicht, wohin mit sich. Dann stoßen sie auf solche Leute, die "Action" machen, sich treffen, "Aufmischen" gehen. Die das toll finden, einfach mal auszuprobieren, wie es ist, wenn man Stunk macht. Einer, der bei uns mal Zivildienstleistender war, sagte jetzt in einem Interview, er wäre aus dem Alter raus, in dem man sich an so was beteiligt. Da sollten wir froh sein, daß zu "seiner Zeit" niemand zu Schaden kam.

Es ist "cool", Gewalt auszuüben?

Brockes: Manche unter den jungen Leuten finden das wohl gut. Man schaut, ob man eine Gruppe findet, mit der man sich anlegen kann. Aus vielen Gesprächen habe ich auch herausgehört, daß andererseits diejenigen, die für die Erziehung verantwortlich sind, viel falsch machen – oder versäumen. Eltern, die auch zu Hause ständig alles auf die Ausländer schieben, Lehrer, die nichts zu politischen oder gesellschaftlichen Fragen sagen, die froh sind, wenn sie ihre Stunde halbwegs glimpflich über die Runde bekommen. Unsere Sozialarbeiter z.B. – wir haben in Guben die beachtliche Zahl von 38 in einer Stadt mit 25.000 Einwohnern – die auch deshalb ihren Auftrag haben, weil die Rechtsradikalen hier einmal so stark waren und hier viel Unruhe in der Stadt war, konnten gemeinsam mit vielen anderen, auch Eltern und Lehrern, Jugendclubs machen, die Gewalt verhindern. Seit Anfang der 90er Jahre hat man ja viel versucht, das ist auch der Schrecken, daß dies alles nicht genug bewirkt hat.

Was gibt es noch Gründe für Gewalt?

Brockes: Was machen viele Jugendliche den ganzen Tag? Die schauen viel Fernsehen, Filme, die Gewalt darstellen, verherrlichen. Ihnen wird da vorgeführt, daß das Höhepunkte sind: wenn Blut fließt, wenn’s knallt, wenn einer umfällt. Ich hatte heute Religionsunterricht. Da waren die Jungs – dritte Klasse! – ganz erpicht darauf, mir irgendwelche Szenen aus irgendwelchen Filmen zu erzählen. Sie schilderten anschaulich brutalste Szenen. Das sind so kleine Jungs, die damit noch gar nicht umgehen können. Die sehen sich das an wie ein Karussel oder ein Mobile.

Was wollen Sie da machen?

Brockes: Man muß mit den Kindern von vornherein darüber sprechen. Man kann ihnen die Auseinandersetzungen und das spielerische Kämpfen nicht verbieten, weil sie es sowieso machen. Aber man muß mit ihnen darüber sprechen, daß das eine ein Spiel ist und das andere Ernst, daß man auf Menschen nicht schießt und daß man ihnen als Mensch gegenübersteht, daß Menschen keine Objekte sind, wo es lustig ist, wenn sie bluten oder wenn sie wegrennen. Das Fernsehen suggeriert aber genau das mit vielen Filmen.

Eltern tun nichts dagegen?

Brockes: Die Sendungen laufen, und die Eltern schicken die Kinder nicht ins Bett. Sie wissen nicht, was ihre Kinder eigentlich ansehen! Dazu kommen auch noch die gewalttätigen Videospiele. Mit diesen Videospielen üben die Kinder das Jagen. Ob da Aliens gejagt werden oder Kaninchen oder ob man selbst versucht, wegzurennen. Das haben die Jugendlichen in die Wirklichkeit umgesetzt.

Sind nicht viele Eltern froh, wenn die Kinder mit Fernsehen ruhiggestellt sind?

Brockes: Richtig. Wenn ich mich umhöre, dann haben die Kinder sogar im eigenen Kinderzimmer einen Fernseher, weil die Familien keinen Streit haben wollen. Harmonie um jeden Preis. Zu Auseinandersetzungen über diese Frage hat kaum einer den Mut, die Zeit und die Geduld.

Gab es in der Vergangenheit bereits ähnliche Vorfälle von Gewalt?

Brockes: Nein. Es war relativ ruhig in der Stadt. Ich habe auch in meiner Gemeinde Jugendliche, die eine andere Hautfarbe haben, die Deutsche sind, aber deren Väter beispielsweise aus einem anderen Land kommen. Manchmal sind sie abends lieber zusammen gegangen, wenn es spät geworden ist. Es gab auch Situationen, wo Leute vor unserem Haus waren, um Stunk zu machen. Aber es gab keine militanten Aktionen. Manchmal passiert etwas bei Disco-Veranstaltungen, wo Schlägertrupps kommen.

Wird sich etwas ändern?

Brockes: Ich hoffe, daß sich manche eher die "Zunge abbeißen", bevor sie eine ihnen harmlos erscheinende ausländerfeindliche Äußerung tätigen. Manchem ist klar geworden: Mensch, das hat ja Folgen! Das kann tödliche Folgen haben. Was die gewaltbereiten jungen Leute tun, fällt auf uns alle zurück. Also sollten wir aktiv werden, Zeichen setzen.

Gibt es andererseits auch objektive Probleme mit Asylbewerbern oder Ausländern?

Brockes: Sicher. Durch die ausländerabweisende Stimmung im Land und die Existenz gewaltbereiter Gruppen sind sie in der Defensive. Aber sie treten wenig in Erscheinung, sie wohnen sehr abgeschlossen in den jeweiligen Heimen. Es ist bei uns ein Problem, daß viel geklaut wird. Was nicht immer von polnischer Seite passiert – Guben liegt direkt an der Grenze – , aber viele Leute schieben das auf Polen und damit schnell auf die Ausländer. So hat einer, dem wieder das Fahrrad geklaut wurde, eine Wut im Bauch. Eine Rolle spielt auch der Verlust der stickigen Nestwärme, die durch den Fall der Mauer verloren gegangen ist. Manche sehnen sich danach zurück und meinen, das wäre ohne den Mauerfall alles nicht so schlimm geworden. Das ist der Preis der Freiheit! Ob man sich deshalb nun aber wieder eine höhere Polizeipräsenz wünschen sollte, ist die andere Frage. Das kann nicht die Lösung sein.

Wie soll so etwas künftig vermieden werden? Sagten Sie nicht sogar, daß es Gewaltbereitschaft auch ohne Ausländer gäbe?

Brockes: Natürlich. Wenn hier keine Ausländer wären, würden sie sich beim Gemeindefest die Jungs aus dem Nachbardorf vorknöpfen. Das ist schon vorgekommen.

Waren unter den beschuldigten Jugendlichen auch welche aus Ihrer Kirchengemeinde?

Brockes: Nein. Einen kenne ich vom Sehen. Seine Freunde sagen einhellig: Wir wußten, daß er eine rechtsradikale Gesinnung hat und daß er vielleicht einmal die Faust sprechen lassen würde, wenn ihm jemand dumm kommt. Daß er so etwas macht, einen Menschen jagt, hat ihm aber keiner zugetraut.

Ist es denn gerechtfertigt, daß man von diesen jugendlichen Tätern als Neonazis spricht?

Brockes: Nein, das ist nicht ganz richtig. Daß es nun bei der Jagd einen Ausländer, einen Algerier getroffen hat: Daran ist das rechte Gerede schuld. Dies kann man außer den Rechtsextremen auch den Leuten anlasten, die einenSündenbock suchen für die Probleme in unserer Gesellschaft und nicht überlegen wollen, was man tun kann, sondern nur in der Sofaecke herumsitzen und unreflektiert daherreden. Die ausländerfeindliche Hetze von rechts ist gut organisiert, das zieht die jungen Leute an und verwirrt Moral und Denken.

Welche Folgen hat das für Guben?

Brockes: Wir werden jetzt bestimmt schwerer ausländische Investoren finden. Guben wollte Euro-Stadt werden, es ist alles furchtbar für uns. Die Schuld am Tod des Ben Noui Omar liegt auf uns allen.

Finden Sie, daß die Medien fair urteilen, wenn gesagt wird, der Osten sei besonders rassistisch?

Brockes: Wir hatten am Sonntag einen Gottesdienst, bei dem ich den Vertretern der politischen Gemeinde, Bürgermeister, Ausländerbeauftragtem dankbar war, daß sie gesagt haben, daß Gewalt jederzeit auch in einer anderen Stadt geschehen kann. Geht man die Namen der Städte durch, die im Zusammenhang mit Gewalt gegegn Ausländer, in den Schlagzeilen waren, so ist das Verhältnis zwischen Ost und West eher ausgewogen. Nur macht die Presse in Bezug auf die neuen Bundesländer besonders viel Wind. Das wird wohl von der Mehrheit der Bundesbürger gern gelesen. Durch diese Schlagzeilen haben wir nun den Stempel weg wie Menschen aus Hoyerswerda. Ausdrücke, wie die "Gubener Hetzjagd"treffen uns alle, obwohl es nur ein paar junge Leute gewesen sind. Doch diese Leute sind auch Gubener. Sie sind hier aufgewachsen und wir müssen die Verantwortung übernehmen. Gerade der Osten Deutschlands hat vor zehn Jahren bedeutende Zivilcourage gezeigt. "Keine Gewalt!" Und trotzdem Veränderung! Wir wissen, daß es geht und wir sind dabei, unsere Zeichen wieder deutlicher zu setzen. Ich wäre froh, wenn Guben auch durch diese Zeichen für Menschlichkeit in den Schlagzeilen wäre! Dann könnten vielleicht die Menschen in anderen Städten Mut bekommen, wachsam zu sein und die Fremden zu schützen.

 

Irene Brockes wurde 1957 in Ballstedt (Harz) geboren, mit 15 Jahren flog sie wegen antisozialistischen Verhaltens von der Schule, 1977 Ausbildung zur Krankenschwester in Jena, anschließend Theologiestudium in Naumburg und Berlin. Seit 1990 Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinde Guben.


 
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