© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/99 19. Februar 1999


Erich Kästner: Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers
Ein infantiler Moralist
Werner Olles

Am 23. Februar 1899 wird Erich Kästner als Sohn des Sattlermeisters Emil Richard Kästner und dessen Ehefrau Ida in Dresden geboren. Während die Mutter den Jungen maßlos verwöhnt und mit ihrer Liebe überschüttet, steht die Ehe der Eltern unter keinem guten Stern. Bis heute wird gemunkelt, daß Kästners leiblicher Vater möglicherweise der jüdische Sanitätsrat Emil Zimmermann, der ein paar Häuser nebenan praktizierte, gewesen sei. Kästnerforscher wie der Germanist Sven Hanuschek halten diese These, die vor allem von den beiden Autoren Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz in ihrer neuen Kästner-Biographie aufgestellt wird, jedoch für wenig wahrscheinlich.

1917 wird der junge Mann zum Kriegsdienst eingezogen und gerät ausgerechnet einem üblen Schleifer in die Fänge, der das verzärtelte, nur 1,68 Meter große Muttersöhnchen schlimm schindet. Beim Militär zieht sich Kästner ein schweres Herzleiden zu, das ihn aber schließlich davor bewahrt, noch in den letzten Kriegstagen an die Front geschickt zu werden. Nach Hause zurückgekehrt erhält er eine Anstellung bei einer Bank, doch die bedrückende Büroarbeit vermag ihn nicht zu befriedigen. Er beginnt zu schreiben, veröffentlicht erste literarische Arbeiten in einer Jugendzeitung. Für die Neue Leipziger Zeitung verfaßt er Glossen und Reportagen und siedelt schließlich ganz nach Leipzig um, um hier ein Studium der Germanistik zu beginnen.

1927 geht Kästner als freier Schriftsteller nach Berlin. Er schreibt Theaterkritiken und bekämpft in gewagten Satiren und erotischen Ergüssen die von ihm als verlogen angesehene Spießmoral des Kleinbürgertums, dem er doch selbst entstammte. Schon bald publizierte er die beiden Lyrikbände "Herz auf Taille" (1927) und "Lärm im Spiegel" (1928).

Mit "Ein Mann gibt Auskunft" (1930), "Fabian" (1931) und "Gesang zwischen den Stühlen" (1932) erschreibt er sich endgültig seinen Platz unter Deutschlands führenden Literaten. Zunehmend wendet er sich nun auch in Kommentaren und Aufsätzen politischen Problemen zu. Kästner geißelt den aufkommenden Militarismus, überzieht Monarchisten und Konservative mit Hohn und Spott. Sein besonderer Haß gilt jedoch den Nationalsozialisten. In der linken Weltbühne warnt er mit eindringlichen Worten vor der Gefahr einer Diktatur in Deutschland. Letztlich unterschätzt er aber Hitler und seine Partei, deren Banalität und Antiintellektualität er mit politischer Impotenz gleichsetzt.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten werden auch Kästners Bücher bei der von Goebbels inszenierten Bücherverbrennung "den Flammen übergeben". Seine antinationalistische Lyrik gilt bei den neuen Herren als "Kulturbolschewismus" und "Zersetzungsliteratur". Kästner wird als bekennender Pazifist und Regimegegner von der Gestapo einvernommen. Zwar erhält er ein Publikationsverbot, das aber nicht kontrolliert wird. Aufforderungen zur Emigration lehnt der Dichter konsequent ab: "Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen./ Mich läßt die Heimat nicht fort./ Ich bin wie ein Baum, der in Deutschland gewachsen,/ Wenn’s sein muß, in Deutschland verdorrt".

So entsteht noch im Jahre 1933 sein vielleicht schönstes Kinderbuch "Das fliegende Klassenzimmer" und ein Jahr später der komödiantische Roman "Drei Männer im Schnee". Unter verschiedenen Pseudonymen schreibt Kästner Drehbücher für UFA-Filme. Bekannt geworden ist seine Mitarbeit bei "Münchhausen", zu der Goebbels persönlich seinen Segen gab. 1935 erscheint der Roman "Die verschwundene Miniatur". Trotz der Frische und Spontanität seiner Erzählerweise, die eine bleibende Leistung darstellen, ist jetzt manchmal auch die den Dichter erdrückende Situation der "inneren Emigration" erkennbar. Seine aufkommenden Depressionen bekämpft Kästner mit exzessiven Frauengeschichten, wobei er zu einer festen Bindung offenbar unfähig ist. Selbst als er später eine ständige Lebensgefährtin, Lieselotte Enderle, hat, ist er ständig auf der Suche nach neuen Abenteuern und neuen Gespielinnen, die dem beliebten Dichter wohl nur allzu gerne seine melancholischen Stunden und Tage versüßen und ihn von der politischen Misere ablenken.

Nach 1945 läßt Kästner sich in München nieder. 1949 erscheint "Die Konferenz der Tiere", eine pazifistische Parabel und zugleich eine Abrechnung mit der diktatorischen Vergangenheit, wie auch das im gleichen Jahr geschriebene Theaterstück "Die Schule der Diktatoren". Er schreibt Kabarett-Texte, berichtet über die Nürnberger Prozesse und avanciert zum Kulturchef bei der Münchner Neuen Zeitung. Hier attackiert er vor allem die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, die er für ein nationales Unglück hält, parodiert die Wirtschaftswunderbesessenheit der Deutschen und ihre unpolitische Haltung angesichts der gerade vergangenen Diktatur und neuer Kriegsgefahren. 1952 und 1955 erscheinen neue Lyrikbände: "Die kleine Freiheit" und "Die dreizehn Monate". Mit "Notabene 45" befaßt er sich 1961 noch einmal mit dem für Deutschland so verhängnisvollen NS-Regime und dessen Folgen.

In den sechziger Jahren wird Kästner, verdrossen über die Konsumversessenheit und bitter enttäuscht über die scheinbar apolitische Haltung der Deutschen, endgültig zum ewigen Pessimisten geworden, beschließen, mit dem Schreiben aufzuhören. Selbst 1968 hat er kaum noch kommentiert, vermutlich schreckte ihn auch die Militanz der Protestjugend. Am 29. Juli 1974 erliegt der Dichter in München einem langjährigen Krebsleiden.

Den meisten Lesern ist Erich Kästner bis heute vor allem als Autor jener wundervollen Kinderbücher bekannt, wie "Emil und die Detektive", das vor nunmehr siebzig Jahren erschienen ist, "Pünktchen und Anton" oder eben dem herrlichen "Fliegenden Klassenzimmer". Auf seine Art ist auch Kästner sein Leben lang ein Kind geblieben, ein infantiler Moralist, dessen moralische Erzählungen, wie auch sein übriges Schaffen, sich gegen falsches und hohles Heldenpathos und gegen die Glorifizierung von Gewalt und Krieg richteten. Bei sich selbst war er wohl weniger zimperlich. Keß, forsch und ruhelos hat er wohl bis zuletzt auch die schönen Seiten des Lebens genossen. Aber einem großen Dichter ist auch das erlaubt.


 
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