© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/99 26. Februar 1999


Wohlstand: Deutschland nimmt nur Platz 19 der Weltrangliste ein
Der schöne Schein trügt
Bernd-Thomas Ramb

Diese reichen Deutschen! Sie können sich finanziell alles leisten und gehören zur wirtschaftlichen Weltspitze. Alle anderen Länder sind dagegen arme Hungerleider, zumindest aber international sozialbedürftig. Zudem noch ein Land der Dichter und Denker, der Massenuniversitätsgebildeten und Leseratten. Von der perfektionierten und üppigen Gesundheitsvor- und -nachsorge ganz zu schweigen. Doch der Schein trügt, und so manches dieser Klischees müßte bei objektiver Sicht zu Grabe getragen werden. Das Bild von einem Deutschland, in dem der allgemeine Wohlstand überfließt und das den Neid und die internationalen Umverteilungswünsche der Nachbarn und aller Welt hervorruft, paßt nicht mehr so recht zu den Tatsachen, die keine geringere Organisation als die Vereinten Nationen kürzlich festgestellt hat.

Seit fast zehn Jahren untersucht die UNO die soziale Entwicklung in der Welt und sammelt statistisches Datenmaterial, das einen internationalen Vergleich ermöglichen soll. Im Laufe der Jahre wurden diese Statistiken verfeinert und die Meßkonzepte und -methoden weiterentwickelt. Der Bericht des Jahres 1998 – im letzten September abgeschlossen – untersucht zusätzlich Veränderungen des Konsumverhaltens hinsichtlich der Umweltbelastung und der ungleichen Einkommensverteilung in der Welt. So wird unter anderem auf die gravierende Verzerrung in der Konsumhöhe hingewiesen, die zwischen den ärmsten Staaten und den reichen Länder besteht. Bemerkenswertes Detail: Die oberen 20 Prozent der Weltbevölkerung in den wohlhabenden Staaten konsumieren 86 Prozent der privaten Konsumgüter.

Bei der Beobachtung der menschlichen Entwicklung greift die UNO auf unterschiedlichen Meßkonzepte zurück. Dabei spielt nicht nur der materielle Wohlstand eine Rolle. In ihrem ersten Entwicklungsbericht berücksichtigten die UN-Beobachter beispielsweise auch das Ausmaß der Wahlmöglichkeiten, die den Menschen in den einzelnen Staaten geboten werden. Diese werden als entscheidend für die menschliche Entwicklung in Richtung eines größtmöglichen Wohlbefindens angesehen. Die UNO folgte damit der modernen ökonomischen Sichtweise, nach der die wirtschaftlichen Entscheidungen der Menschen keinesfalls allein auf materielle Gesichtspunkte ausgerichtet sind, sondern auf die Maximierung des Wohlbefindens generell abzielen. Für die UNO waren zunächst allein die drei Faktoren Gesundheit, Bildung und Lebensstandard maßgeblich für das menschliche Wohlbefinden. Später kamen Umweltfaktoren und der Aspekt der Nachhaltigkeit hinzu. Die Situation der Menschen sollte nicht von momentanen Hochpunkten bestimmt sein, sondern auch noch später, insbesondere für die nachfolgenden Generationen, Wahlmöglichkeiten in der Weiterentwicklung bewahren und erweitern. Seit Mitte der neunziger Jahre wurde das Entwicklungskonzept zudem um den Sicherheitsaspekt erweitert: Wahlmöglichkeiten sollten sicher und frei, sowie zukunftsbeständig sein.

Erfaßt werden die unterschiedlich abgegrenzten Definitionen des Wohlbefindens durch Indikatoren. Deren wichtigster, der Human Development Index (HDI), stammt von dem letztjährigen Nobelpreisträger für Ökonomie, Amartya Sen. Der HDI erfaßt im wesentlichen das Ausmaß an Gesundheit und Bildung, sowie den Lebensstandard der Menschen. Die zuletzt nach dem HDI-Index errechneten Zahlen stammen aus dem Jahr 1995. Danach nimmt Kanada die Weltspitze ein, gefolgt von Frankreich, Norwegen und den USA. Auf den nachfolgenden Rängen liegen Island, Finnland, die Niederlande und Japan. Die europäischen Staaten Schweden, Spanien, Belgien, Österreich und Großbritannien nehmen die Plätze 10 bis 14 ein. Erst auf Platz 19 der Weltliste, das ist Platz 14 der Europaliste, folgt Deutschland. Vor der Bundesrepublik rangieren noch die Schweiz, Irland und Dänemark, direkt dahinter Griechenland und Italien. Mit der Rangfolge bei den Zahlungsverpflichtungen an internationale Organisationen hat die Plazierung Deutschlands in der menschlichen Entwicklung somit wenig gemein.

Gemildert wird dieses für Deutschland trübe Bild durch die Betrachtung eines erweiterten UNO-Indikators, in dem die Entwicklung der Menschheit zusätzlich an dem Ausmaß der Gleichberechtigung der Geschlechter gemessen wird. Mit dem "Gender Empowerment measure" (GEM) wird nicht nur das Ausmaß der Gleichheit zwischen Männern und Frauen eines Landes im Bezug auf Bildung, Gesundheit und Lebensstandard erfaßt. Zusätzlich werden unterschiedliche Anteile der Geschlechter an Parlamentssitzen, leitenden Wirtschaftspositionen sowie akademischen und technischen Berufen und Unterschiede in den Arbeitseinkommen als Anzeichen einer zurückgebliebenen Entwicklung gewertet. Auf der Grundlage des GEM-Indikators wird die Entwicklungsrangfolge des HDI kräftig durcheinander gewirbelt. Kanada verliert seinen ersten Platz an Schweden (vormals auf Platz 10) und rutscht auf den siebenten Rang. Noch ärger trifft es Frankreich, das von Platz 2 auf Platz 31 sinkt. Japan verliert sogar 30 Rangpunkte (von Platz 8 auf Platz 38). Insgesamt gewinnen bei diesem Maß die skandinavischen Länder an Entwicklungswert. Den größten Sprung macht Dänemark von Platz 18 auf Platz 3. Auch Deutschland hat sich dank seiner emanzipatorischen Anstrengungen fortentwickelt, auf Platz 8.

Nichts zu beißen, dumm und krank, aber ohne Unterschied zwischen Mann und Frau, könnte der GEM-Index verächtlich abqualifiziert werden, zumal wenn er zu so großen Umgruppierungen führt. Ein bemerkenswerter, wenn auch überbewerteter Teilaspekt bleibt er gleichwohl, gerade im europäischen Vergleich.


 
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