© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/99 26. Februar 1999


Pankraz,
G.C. Lichtenberg und die Widerspruchsgeister

Er war von Bitterkeit nicht frei, der kleine, verbuckelte Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg in Göttingen, der vor nunmehr genau zweihundert Jahren ins Grab gesunken ist, sechsundfünfzig Jahre alt. Die zivilisierte Welt kam ihm gelegentlich wie ein Viehmarkt vor: "Dort sind auch immer die Augen auf den größten und fettesten Ochsen gerichtet."

Wenn er am Abend den Trillern und Kadenzen der unscheinbaren Nachtigall lauschte und sie mit dem Krächzen seines farbenprächtigen Hyazinthpapageis verglich, den er sich aus England mitgebracht hatte, dann trug er wohl in seine Sudelbücher ein: "Die buntesten Vögel singen am schlechtesten, und das gilt auch für Menschen. Wo Prachtstil ist, da muß man nie tiefe Gedanken suchen."

Einer seiner Lieblingssprüche lautete: "Wenn ein Affe in den Spiegel guckt, kann kein Apostel herausschauen." Man darf sich nie Illusionen machen, predigte er unermüdlich, man sollte seine Kräfte genau einschätzen und sich davor hüten, auf einem Gelände herumzuackern, zu dem einen die Natur nicht das richtige Gerät mitgegeben hat.

Merkwürdigerweise verachtete er aber auch die Naturgaben. Zumindestens sollten sie, bevor man von ihnen Gebrauch machte, vom "kritischen Geist der Aufklärung" erst einmal gründlich unter die Lupe genommen werden. Traditionen waren dazu da, um in Frage gestellt zu werden. So hat er sich also über alle "bloßen Vorurteile" unendlich lustig gemacht, ja, richtig erregt, über das Christentum und das Judentum, über die "konfutsianischen Talgnasen" in China und über die polternden Kraftgenies des "Sturms und Drangs" in Deutschland, über Pietisten und Schamanen.

Die Unempfindlichkeit für durch Generationen weitergegebene, von den Zeiten gehärtete und abgeschliffene Weistümer und Brauchtümer gehört zweifellos zu den Schwächen des Georg Christoph Lichtenberg. Er teilte sie mit der Masse der übrigen Aufklärer, die allen Ernstes glaubten, die Welt ließe sich vor ein "Gericht der Vernunft" zerren und mit Hilfe einiger mathematischer und physikalischer Grundregeln zurechtstutzen und rektifizieren.

Daß Lichtenberg dennoch kein zweiter Nicolai oder Lamettrie geworden ist, verdankt er nun einer Naturgabe, die ihm reichlich in die Wiege gelegt war: seinem unerhörten Gefühl für sprachliche Präzision und sprachliche Valeurs, seinem instinktiven Wissen darum, daß die Sprache keineswegs eine Art "mathesis universalis" ist, kein lebloser Formelkatalog, sondern ein Medium der Bannung durchaus, ein geheimnisvoll und wirkmächtig in die Welt hineingreifendes Organ, das mit einem einzigen Wort ganze weite Landschaften blitzartig zu erhellen vermag.

Lichtenberg vertraute dem Wort, nicht dem "Prachtstil" der Hya- zinthpapageien, nicht dem metaphorischen Überschwang und der insistierenden Geschwätzigkeit, wohl aber der "endgültigen Formulierung", um die man freilich lange ringen muß. Deshalb hielt er auch nicht die simple Lüge für den schlimmsten Widerpart gediegener Rede, sondern jene "feinen falschen Bemerkungen", die aus der Dummheit der allzu sehr von sich selbst Überzeugten entstehen. "Wir haben leider keine Worte, um mit den Dummen über Weisheit zu sprechen", klagt er, "der ist schon weise, der den Weisen versteht."

Hier liegt also der Grund für die Liebe zur Lakonie, die diesen prächtigen Schriftsteller auszeichnete, seine Leidenschaft für den Aphorismus, die ihn zum ersten, unübertroffenen Meister jener Redeform in der deutschen Sprache machte, ihn ebenbürtig neben die französischen Moralisten stellte und ihn Nietzsche das Bett bereiten ließ. Der Aphorismus war für ihn das Medium, in dem sich die wahrhaft Weisen über die Täler der Dummheit hinweg direkt von Gipfel zu Gipfel verständigten und sich damit eine Menge öden und überflüssigen Erklärungsbedarfs ersparten.

Interessant übrigens, daß auch Lichtenbergs Leistungen als Physiker in Göttingen etwas Lakonisches, Aphoristisches an sich haben. Er ist bekanntlich der Entdecker der (nach ihm benannten) Lichtenbergschen Staubfiguren: Man läßt elektrische Funken auf eine Glasplatte schlagen, und dann kann die Bahn der Funken durch Auftragen von Schwefelblumenpulver sichtbar gemacht werden.

"Schwefelblumenpulver" – was für ein entzückendes, passendes Wort! Lichtenbergs Sprache schlug nicht nur Funken, sie lieferte, schwefelig und blumig in einem, auch gleich noch das Pulver, das die Funken sichtbar machte, zumindest für jene, die Funken und Blumenmuster zu lesen verstehen.

Das Schwefelige, das ja in der Regel (und so auch bei Lichtenberg) leider von mephitischen Düften begleitet ist, sollte man dabei nicht verachten. Manchmal stinkt es in den Aphorismen und Briefen unseres kleinen Professors, aber wenn man sich die Nase zuhält und ganz dicht herangeht, um die Schwefelblumen genau zu betrachten, entdeckt man immer, daß sie tatsächlich das endgültige Muster freilegen, daß der Einsatz des dubiosen Stoffs notwendig war.

Oder man entdeckt, daß in der Bosheit der Rede ganz leichthin die Täler der Dummheit, der Ignoranz und des Geschwätzes markiert werden, so etwa in dem berühmt-berüchtigten Aphorismus E 382 von 1775: "Wie geht’s", sagte ein Blinder zu einem Lahmen. – "Wie Sie sehen", antwortete der Lahme.

Da wird die Sprache und die Kommunikation überhaupt, das Sehen und Gehen, das Sichansehen und Miteinanderumgehen, strikt ins Gegenteil verkehrt, und "immer nur das Gegenteil von dem tun, was die Nachahmer tun, heißt auch nur nachahmen", warnt G. C. Lichtenberg. "es heißt nämlich: das Gegenteil nachahmen". Eine gute Lektion für geborene Widerspruchsgeister.


 
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