© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/99 26. Februar 1999


Isolierte Existenzen
von Hans-Joachim Widmann

Politik, handelnde Politik, ist Faszination, aber auch Routine. Ganz überwiegend Routine, in der es schon ungewöhnlicher Leidenschaft für Details bedarf, um sie nicht bald als langweilig zu empfinden. Oder einer gewissen eigenen Stumpfheit, gemischt mit der Eitelkeit des Funktionärs, der irgendwo etwas mitbestimmt: "Wir haben beschlossen ..." Kann es nicht da und dort aufrichtige Sorge um das allgemeine Wohl sein? Vielleicht!

Die Routine prägt. Egal, ob auf örtlicher Partei- oder Gemeindeebene oder innerhalb der Spitzen der Bundespolitik. Die unterschiedlichen Arbeitsfelder: Details eines Bebauungsplans oder einzelne landwirtschaftliche Förderungsmaßnahmen auf Bundesebene ändern daran gar nichts. Der Politiker bemerkt die Routinehaftigkeit seines Handelns auch kaum, er ist eingesponnen wie praktisch alle, mit denen er als seinesgleichen umgeht. Wann, in wie seltenen Momenten kann er sich ihr in einem faszinierenden schöpferischen Aufschwung entwinden – wenn überhaupt; in einem Augenblick der Reflexion, vielleicht in einer der wenigen geglückten politischen Reden, in der einmal nicht nur Phrasen aneinandergereiht werden.

Offenbar bedarf es für die Politik eines bestimmten Typus, in den man sich, wenn man dort mitwirken will, einpassen muß, sofern man ihn nicht nach seiner intellektuellen Struktur schon darstellt. Ein Typus gehobener Mittelmäßigkeit, gegen Nachdenklichkeit immun. Oder? Dies wird im einzelnen noch zu untersuchen sein.

Zunächst nur einige Beobachtungen. Wie schnell schwinden bei denjenigen, die frisch in handelnde Politik tauchen, Originalität und geistige Beweglichkeit, wenn sie sie denn zuvor oder auch anfangs verströmten. Beispielhaft ist mir ein fränkischer CSU-Abgeordneter: sein unkonventioneller Wille, alles ganz neu anzupacken, seine menschliche Zuwendung, wenige Wochen, nachdem er zum erstenmal in den Bundestag gewählt worden war, und jetzt, in der Karriere fortgeschritten, seine in Stil und Inhalt so gleichförmige, kraftvolle – der harte Akzent ist geblieben – Sprache eines programmierten Automaten. Das muß wohl auch so sein! Funktionär weist auf Funktion, darin bestimmt sich die Aufgabe, nicht in individuellem Denken. Ein Politiker, der nicht funktioniert, hat im Parteienstaat regelmäßig wenig Zukunft.

Man merkt dies sehr schnell, wenn Politiker, wie man sagt, gemütlich zusammensitzen. Wie wird dort, als getreues Abbild aller solcher Treffen, bei denen sich Menschen von eher geringerer geistiger Beweglichkeit zusammenfinden, vom ersten bis zum letzten Satz über die jeweils abwesenden Mitglieder ihrer Kaste geschludert. Welche peinliche Betretenheit verursacht es, wenn inmitten dieses Tratsches plötzlich jemand von der Neuinszenierung des "Ringes" in Bayreuth erzählt. Höfliche Gequältheit auf den Gesichtern der anderen, ähnlich wie dann – obwohl Politiker hier, wie die Barschel-Engholm-Affäre zeigt, schon anfangen, sorglos zu werden –, wenn Kellner den Raum betreten und den Austausch von Nachreden über Dritte wegen der besonderen Vertraulichkeit, die ohnehin keiner einhält, für einige Momente unterbrechen. Alles – natürlich – fiktiv.

Der hat sich in Plauen mit seiner Wohnanlage verspekuliert. Das Ministergehalt, das er einkalkuliert hatte, ist seit der Sache mit der Mülldeponie weg. Und jetzt hat ihn seine Frau rausgeschmissen wegen der Journalistin von Bild, und damit ist mit ihrem Geld auch Schluß. Deshalb haben die Banken die Kredite gekündigt. "Wieso? Mit der Journalistin ist es doch schon wieder zu Ende. Jetzt hat er jemand aus seinem Wahlkreis, die Schwarze, mit der er neulich auf dem Empfang war. Eigentlich peinlich, denn ihr Mann, von dem sie noch nicht geschieden ist, stand fünf Meter weiter."

"Hast du den ... beobachtet? Ab Mittag ist er nicht mehr nüchtern. Immer Korn und Bier. Wie der das aushält? Als er neulich im Bundestag redete, war er volltrunken. Reden kann er dann ja noch, er weiß auch immer genau, was er gesagt hat, aber als er zu seinem Platz zurückging, wäre er beinahe die Treppe heruntergefallen … hat ihn gerade noch festgehalten." Politikergespräche.

Es gilt für alle Zirkel von abgekapselten Existenzen, z. B. auch Juristen, also Gruppierungen, die wenig Austausch mit anderen, ganz abweichend beschaffenen Personenkreisen haben. Leopold von Wiese hat in seiner soziologischen Kritik der Philosophie Kants darauf hingewiesen. Vielleicht entsteht diese Stumpfheit erst in solcher Art gemütlicher Zusammenkünfte, denen die Politikerinnen häufig gram sind, weil sie bei Korn und Bier nicht recht mithalten können oder wollen. Aber eher sehe ich sie dennoch durch das politische Tagesgeschäft vorgegeben, die Fülle an Fakten oder Pseudofakten, die verwirrenden, sich oftmals gegenseitig abdrängenden Einzelaspekte, echt oder scheinbar, nur eines einzigen Themas, die kiloschwere Papierflut. Denn daß Politikerinnen sich geistig offener hielten, nicht auch in den Dunst der Alltäglichkeit eingefangen wären, läßt sich nicht aufzeigen. Hippolyte Taine berichtet über das vorrevolutionäre Frankreich, daß Ludwig XV. kaum täglich eine freie Stunde für Staatsgeschäfte gehabt habe. Wir haben inzwischen unsere Souveräne – unsere Repräsentanten – vervielfacht, aber Repräsentation – zu was wird ein Politiker nicht alles angefordert und geht auch hin – und Papiermengen wuchsen ungleich stärker. Wie deprimierend müsse es für einen Minister sein, sagte mir vor kurzem ein ihm fast unmittelbar nachgeordneter Spitzenbeamter, wenn er erkennen müsse, daß ihm auf weiten Strecken die Kompetenz fehle. Aber was läßt sich denn unter solchen Voraussetzungen erwarten, wenn ein Tierarzt, ein Universitätsprofessor, ein Exportkaufmann unter Bedingungen wie geschildert zum Minister in einem ihm fremden Fach berufen wird. Welch beeindruckender Hochmut dieses Fachbeamten, der recht hat, den im Grunde jedoch nur Neid umtreibt auf den, dessen Stellung er niemals erreicht!

Zum Typus und dem beschriebenen Umfeld, in dem man den Politiker sich bewegen läßt, kommt schließlich noch die Wettbewerbssituation zu anderen Parteien bzw. deren Vertretern, in der er bei Diskussionen oder Reden steht. Ob ein Gegner anwesend ist oder nicht – nicht ist vielleicht sogar besser, weil er dann gegen ein Phantom kämpfen kann, das er sich selbst schafft –: man erwartet ihn, das schätzt er richtig ein, als geistigen Florettfechter, auch wenn es ohne Verrenkungen meistens nur zu mehr oder weniger harmlosen Witzchen kommt, weil man über das, was als grundsätzlich umstritten dargestellt wird, allenfalls in Nuancen unterschiedliche Meinungen vertreten kann. Deshalb bedarf es traditionell der Überzeichnung, es müssen Reizworte her, die die "andere" Position negativ färben, die eigene positiv. Reizwörter, mit denen man die Zuhörer animiert, anfeuert über die Dauer der Rede hinaus, ein archaisches, irrationales Element, das der Redner für sich selbst – wenn er es nicht bewußt einsetzt – verdrängt, als seinem Selbstgefühl zuwider, das die Bedeutung der Rede eben doch in dem Inhalt, der Botschaft sehen will. Und es entstehen Sätze wie: "Die alten Ladenhüter sitzen heute links. Sie vertreten alte Wohlfahrtsgesellschaften, alte Themen, große Verwaltungen, viele Gängelungen, Regelungen, die den Bankrott schon in sich tragen." Niemand fragt oder soll sich fragen, ob Ladenhüter, das heißt Waren, sitzen können. Man berauscht sich schlicht, wie es umgekehrt die Gegenmeinung an ihren Reizworten tut.

Typus, Umfeld und Wettbewerbssituation: damit sind die Elemente, die politische Denk-, Rede- und Handlungsstrukturen vorprägen, beisammen; aus ihnen wird das, was als Routinehaftigkeit, Oberflächlichkeit, manchmal langweilende Plattheit erscheint, verständlich. Selbstverständlich muß vieles angesichts der Sturzbäche sonstiger Informationen gebetsmühlenartig ständig wiederholt werden, aber nicht deshalb wirkt es abgenutzt, phrasenhaft, sondern wegen seiner inhaltlichen Banalität, aus der kein konkreter Weg auf das geforderte Ziel sichtbar wird. Der Redner in seiner geistigen Dunstglocke erkennt die gedankliche Lücke nicht mehr, er hält das, was er sagt, für ausreichend, zumal wenn zwischendurch bei besonders drastischen Reizworten oder polemischen Anwürfen des Gegners oder jedenfalls am Ende applaudiert wird. Gerade dies nehmen vorzugsweise dann auch die Medien wiederum auf, und der Transport einer Information, die Phrase als Quintessenz, vollendet sich.

Politiker sind fleißig. Egal ob sie im Bundestag oder in Kreistagen oder Gemeinderäten sitzen. Wer dies bezweifelt, erfährt ihren aufrichtigen Zorn. So erinnerlich aus Hamburgs Bürgerschaft, die es gelassen hinnahm, ihre Mitglieder sogar noch verteidigte, als zwei Abgeordnete sich ihre Parlamentsbezüge nicht auf ein gleichzeitig bezogenes Arbeitslosengeld anrechnen lassen wollten, während man sie als untragbar empfand, nachdem bekannt wurde, sie hätten behauptet, nur wenige Wochenstunden auf ihre Mandatstätigkeit zu verwenden. Daß man einen Politiker dumm nennt, erregt ihn wenig. Aber faul? Nur besagt Fleiß, Emsigkeit nichts über die Qualität politischer Arbeit; Umtriebigkeit muß nicht ertragreich sein; nicht einmal der Aktionismus des einen oder anderen Bundestagsabgeordneten, wenn er nicht zu frühstücken vermag, bevor er eine Presseerklärung herausgegeben hat.

Zuweilen, eher selten, gibt es Aufhellungen. Wenn inmitten politischer Alltäglichkeiten irgendwann ein Sachthema auftaucht, das jenseits politischer Innenschau auch die Bürger allgemein zu interessieren vermag, weil es sie spürbar betrifft, sei es im örtlichen Bereich die Trassenführung einer Autobahn in Vorpommern oder im Westerwald oder die Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt.

Ein gesondert zu betrachtender Typus ist in diesem Abschnitt bisher noch nicht genannt worden: der reine Parteipolitiker. Für ihn, der nur in der Partei lebt, im übrigen in seiner Denkstruktur aber gleichermaßen vorgeprägt ist, sind geschilderte Aufhellungen noch seltener. Vor allem, wenn sein Interesse der Programmatik und deren Fortentwicklung gilt. Auch er bleibt äußerlichen Einflußnahmen ausgesetzt, aber noch gedämpfter, praxisfern. Wer in politischer Programmatik wirklich lebt, bedarf von vornherein einer gewissen gedanklichen Stumpfheit, verbunden häufig mit dem Habitus des Schwarmgeistes, der verächtlich über störende Details hinwegsieht. Programmatik – was wäre eine Partei, was wäre eine moderne liberale Partei ohne sie – schmückt, auch wenn sie als Phrase, als Worthülse geschaffen wird; sie ist der eigentliche Born politischer Weisheit, aus dem alles, was später in Gemeinderäten und Kreistagen, in den Parlamenten zur Unkenntlichkeit verwässert wird, einmal rein und unverwechselbar geflossen ist. Alles, was politisch entsteht, geht von hier aus!

 

Dr. Dr. Hans-Joachim Widmann, 65, ist Rechtsanwalt in Hamburg. Von April 1995 bis November 1996 war er Vorsitzender der FDP in Hamburg. Bei seinem Text handelt es sich um einen genehmigten Vorabdruck aus seinem Buch "Parteienhochmut. Der Fall F.D.P – Stürzen unsere Parteien ab? (Universitas Verlag, München), das in den nächsten Tagen erscheint.


 
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