© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/99 05. März 1999


Neue politische Eliten
von Eberhard Hamer

In der politischen Debatte wird zwar viel über alle möglichen Einzelvorschläge zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit diskutiert; eigenartigerweise wird aber eine Schuldzuweisung für die Gründe der Arbeitslosigkeit allenfalls in Richtung Wirtschaft und Gewerkschaften vollzogen, nicht aber politisch diskutiert. Eine wirkliche Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit kann aber nicht durch Kurieren an Einzelsymptomen erwartet werden, sondern allenfalls durch eine Korrektur der strukturellen, grundsätzlichen Ursachen. Diese Ursachen sind von der Politik selbst herbeigeführt worden:

1. Alle Politiker beklagen, daß Deutschland die höchsten Lohnnebenkosten der Welt hat. Die Regierungsparteien verweisen auf die Gewerkschaften, die sozialistischen Parteien auf die Arbeitgeberverbände. Beide hätten diese hohen Lohnnebenkosten vereinbart.

Tatsächlich aber sind mehr als zwei Drittel der Lohnnebenkosten nicht tariflich vereinbart, sondern durch staatliche Sozialgesetze und Bürokratiepflichten verursacht worden. Der Staat ist also zu zwei Dritteln verantwortlich für die höchsten Lohnnebenkosten unserer Geschichte, die dazu führen, daß die Großwirtschaft ihre Produktionsanlagen systematisch ins lohnkostengünstigere Ausland verlagert und Armeen von Arbeitslosen zurückläßt. Die Industrie reagiert nur auf staatliche Rahmendaten. Würde sie nicht reagieren, wäre sie international nicht mehr wettbewerbsfähig, denn ihre ausländische Konkurrenz hat nicht die höchsten Soziallasten auf dem Faktor Arbeit, sondern nur einen Bruchteil dieser Last, so daß allein dadurch die Lohnkosten bereits halbieren und ihr Wettbewerbsvorsprung entsteht. Nicht die Wirtschaft und nicht die Tarifpartner können diese Ursache der Arbeitslosigkeit beseitigen, sondern nur unsere herrschenden Politiker. Sie müssen einsehen, daß die einseitige Belastung des Faktors Arbeit mit allen Soziallasten – in Wirklichkeit "Sozialsteuern" – längst nicht mehr in den internationalen Rahmen paßt und den deutschen Standort entscheidend schädigt, also die Arbeitslosigkeit folgerichtig herbeigeführt hat.

2. Die Arbeitslosigkeit ist mit einem anderen wichtigen Anteil auch durch die Höhe der Steuern bedingt. Auch hier haben wir einen Spitzenplatz in der Welt. Unsere Arbeitnehmer werden für den Lohn ihrer Leistung härter besteuert als in anderen Ländern. So hart, daß der Nettobetrag der unteren Lohngruppen niedriger ist als geschickt kombinierte Sozialleistungen. Kein Wunder, daß deshalb die Anträge auf Sozialleistungen aller Art sich vervielfachen – die Sozialhilfekosten haben sich in den letzten 20 Jahren versechzehnfacht –, während die Lust zu leisten durch die hohen Abgaben unterdrückt wird. Dies gilt aber nicht nur für die unteren Lohngruppen, sondern auch für die "Besserverdienenden". Wer Verdienst, Kapital oder Vermögen in Deutschland versteuern muß, wird von den gierigen öffentlichen Händen härter gegriffen als anderswo in der Welt; kein Wunder, wenn deshalb Spitzenverdiener steuerlich ins Ausland flüchten und nicht mehr in Deutschland investieren und versteuern.

3. Alle Parteien und die Großwirtschaft rufen zur "Globalisierung" auf. Darunter ist weltweite Industriepolitik zu verstehen, daß also die deutschen Industriekonzerne nicht mehr ihre deutschen Zulieferer beschäftigen oder Dienstleistungen in Deutschland einkaufen, sondern überall in der Welt, wo diese Teile oder Leistungen gerade am billigsten sind. Und sie sind natürlich dort am billigsten, wo nicht nur die niedrigsten Lohnkosten, sondern vor allem die niedrigsten Belastungen herrschen. Wer also Globalisierung beklatscht, weiß genau, daß dies nichts anderes als die Verlagerung unserer teuren Industrieproduktion und Dienstleistungen (zum Beispiel Programmier- und EDV-Abrechnungsarbeiten nach Indien) in die Niedriglohnländer bedeutet. Wenn also das Volkswagenwerk seine Zulieferer in Deutschland nicht mehr beschäftigt, sondern aus Osteuropa und Asien Zulieferteile bezieht, wird notwendigerweise die Produktion in Deutschland eingestellt und entsprechende Arbeitslosigkeit bei uns hinterlassen. Globalisierung ist in diesem Sinne für ein Hochlohnland immer bewußt herbeigeführte Arbeitslosigkeit.

4. Das gleiche gilt für die europäische Harmonisierung und für den Euro. Unsere Politiker überschlagen sich, um schärferen Wettbewerb und gleiche Preise innerhalb von Europa herbeizuführen. Gerade die deutsche Politik weigert sich aber, die notwendige politische Konsequenz einer Preisgleichheit – nämlich die Kostengleichheit – herbeizuführen. Niemand in Europa hat Steuern, Sozialabgaben, Gebühren und Beiträge so hemmungslos erhöht und damit den deutschen Standort rücksichtslos verteuert wie die deutschen Politiker. Die zwangsläufige Folge: Wo die Steuern und Sozialabgaben am höchsten sind, wird die Produktion abgebaut, um sie an kostengünstigere Standorte in Europa zu verlagern (Spanien, Irland, Portugal). Zurück bleiben wieder die deutschen Arbeitnehmer, welche bei uns ihre Arbeitsplätze verlieren, im Ausland aber keine gleichwertige Arbeitschance haben und auch keine gleichwertige Verdienstchance. Auch dieser Teil der Arbeitslosigkeit ist also von der Politik einerseits durch Eurotätigkeit, andererseits durch Untätigkeit bei der öffentlichen Kostensenkung vorsätzlich herbeigeführt.

5. Niemand kämpft für die Osterweiterung der EU stärker als die Politiker der Bundestagsparteien. Den Vorteil von der Osterweiterung haben aber wiederum nur die deutschen Großkonzerne, welche dann ihre Produktion in die nächstgelegenen Billiglohnländer verlagern können und wiederum Millionen von einheimischen Arbeitsplätzen dafür abbauen. In Deutschland kostet die Lohnstunde ca. 50 DM, in Polen 9,50 DM. Also ist es für Konzerne vernünftig, die teuren Standorte und die teuren Arbeitnehmer zu verlassen, um billige Standorte mit billigen Arbeitnehmern dafür einzutauschen. Volkswirtschaftlicher Verlust durch die Verlagerung: Millionen von deutschen Arbeitsplätzen, Millionen von neuen Arbeitslosen und steigende Sozialkosten für alle, die noch in Deutschland Arbeit haben.

Im Falle der Osterweiterung sind die politisch gewollten Folgen vor allem in den neuen Bundesländern dramatisch: eine zu frühe Osterweiterung würde hunderttausende mittelständischer Betriebe und etwa zwei Millionen Arbeitsplätze vernichten. Die Osterweiterung würde also den Aufbau Ost etwa wieder zur Hälfte zerstören und etwa hundert Kilometer entlang der deutschen Ostgrenze einen neuen Zonenrand, eine wirtschaftliche Todeszone entstehen lassen.

Gerade die personalintensiven mittelständischen Betriebe, welche die höchsten Sozialkosten und Steuern zu tragen haben, würden eine fünffach so billige Lohnkostenkonkurrenz aus Polen, der Tschechien oder nachher der Ukraine nicht standhalten können. Sie werden also politisch dem Eurofanatismus der politischen Klasse geopfert – mit allen Folgen für die gesellschaftliche und politische Stabilitätsgefahr.

6. Die Arbeitslosigkeit ist kein nationales, sondern ein internationales Problem. Wir machen nur den Fehler, daß wir die internationale Arbeitslosigkeit übernehmen und national lösen wollen. Unsere herrschenden Politiker und Parteien haben nämlich den Gastarbeitern gespaltene Rechte zugestanden: Zwar verwehren sie ihnen kurz- und mittelfristig das Staatsbürgerrecht; sie geben ihnen aber vom ersten Tage an sämtliche Sozialrechte. Und vor allem kann ein einmal begründetes Gastarbeitsverhältnis faktisch ein Dauergastrecht begründen. Würde dagegen das Gastrecht enden, wenn wir keine Arbeitsplätze mehr für diese Ausländer haben, dann wäre nationale Arbeitslosigkeit schnell lösbar. Wir haben nämlich weniger arbeitsbereite Deutsche, als wir von Ausländern besetzte Arbeitsplätze in Deutschland haben. Insofern gibt es eigentlich keine nationale Arbeitslosigkeit, sondern nur eine internationale, die sich auf unserem Boden mit abspielt. Bei Änderung des Gastarbeiterrechts könnte die deutsche Arbeitslosigkeit vollständig ausgetrocknet werden. Da aber unsere Politiker nicht mehr national, sondern europäisch und "global" sein wollen, dürfen solche internationalen Teilgründe unserer Arbeitslosigkeit auch nicht genannt und nicht gelöst werden. Statt dessen vertraut man darauf, daß unsere Arbeitslosen wegen der hohen Sozialleistungen hinnehmen, daß ihre Arbeitsplätze von zu uns geströmten ausländischen Gästen besetzt bleiben. Auch hier liegt politische Schuld – auch wenn darüber nicht gesprochen werden darf.

7. Die Gründe für die Arbeitslosigkeit sind aber nicht nur wirtschaftlicher und sozialpolitischer Natur, sondern hängen auch mit unserer Bildungspolitik zusammen: War in den fünfziger Jahren das Leistungsprinzip auch in den Schulen und Hochschulen vorherrschend und war es damals das Ziel der besten Schüler und Studenten, sich einmal als Unternehmer selbständig zu machen, so hat sich im Gefolge der 68er-Revolution die Mentalität erst der Lehrer, dann auch der Schulen und Hochschulen gegen Unternehmer und zu einer Arbeitnehmerausbildung gewandelt. In den siebziger Jahren wollten nach Umfragen des Mittelstandsinstituts Hannover selbst in wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten nur weniger als fünf Prozent der Studenten Unternehmer werden oder "etwas mit Unternehmen zu tun haben". Alle anderen strebten in möglichst hochbezahlte und arbeitsarme Jobs – vor allem beim Staat. Die Rentnermentalität der Lehrer wurde auch den Kindern als "soziales Verhalten" beigebracht. Eliten waren verpönt, Unternehmer zu "Ausbeutern" erklärt.

Noch schlimmer war es an den Hochschulen. Professoren, die jegliche Berührung mit der Praxis als wissenschaftliche Beschmutzung empfinden, haben sich an immer komplizierteren modelltheoretischen Rechnungen berauscht und die Fakultäten immer einseitiger darauf getrimmt, Nachwuchsspezialisten für Staat und Kapitalgesellschaft heranzubilden oder für den eigenen wissenschaftlichen Nachwuchs. Daß aber rund 96 Prozent aller unserer Unternehmen Personalunternehmen sind, bei denen erst einmal ein Inhaber vorhanden sein muß, ist in unserem Bildungssystem untergegangen oder vorsätzlich unterdrückt worden.

8. Genauso unredlich wird die Lehrstellendebatte geführt. Die Politiker appellieren an eine angebliche "Ausbildungsverpflichtung der Unternehmen". Tatsächlich aber fehlen nicht Ausbildungsplätze, sondern bessere Rahmenbedingungen.

l In Deutschland leben nach neuesten Veröffentlichungen ca. drei Millionen Analphabeten – meist Ausländer. Der Sozialstaat hat sie hereingeholt und hält sie im Land. Für eine Lehre sind Analphabeten untauglich. Wer nicht lesen oder schreiben kann, wird auch keinen Gesellenabschluß schaffen. Und da die Unternehmen immer mehr Haftung auch für Fahrlässigkeit von Mitarbeitern übernehmen müssen, ist die Einstellung eine Analphabeten in den qualifizierten mittelständischen Berufen ein vom Staat gesetzlich geschaffenes, für Unternehmen nicht mehr tragbares Risiko.

l Der Staat, nicht die Wirtschaft, hat inzwischen die Ausbildungsformalien so übertrieben, daß schon aus diesem Grunde 54 Prozent der vom Mittelstandsinstitut befragten Betriebe nicht mehr bereit sind, "sich dem Ausbildungsformalismus der Lehrlingsausbildung zu unterziehen". Die Bürokraten haben alles und jedes geregelt – nur nicht bedacht, daß die Unternehmer nicht mehr bereit sein können, sich solchem Bürokratismus zu unterwerfen.

l Wer einen Lehrvertrag unterschreibt, verpflichtet seinen Betrieb damit zu durchschnittlich 50.000 DM Mehrkosten, als der Lehrling selbst einbringt. Solche Investitionen können sich die Betriebe immer weniger leisten, je schlechter es um ihre Auftragslage und Gewinne steht. Etwa die Hälfte der Kosten ist durch den zweiten Berufsschultag bedingt. Auch hier hat der Staat und haben die Staatspädagogen zu stark nach der Lehrausbildung gegriffen, weil sie traditionell der Auffassung sind, der Lehrling könne von ihnen mehr lernen als vom Meister. Würde der zweite Berufsschultag abgeschafft, würden damit auch die Kosten des Lehrlings auf ca. 30.000 DM gesenkt und wieder tragbarer.

Alle diese lehrstellenwidrigen Bedingungen hat der Staat und haben unsere Politiker geschaffen. Statt daß sie nun selbst bei sich anfangen zu korrigieren, machen sie die Wirtschaft für ihre eigenen Fehler verantwortlich: die große Lehrstellenlüge auf Seiten des Staates.

Daß bisher die Diskussion um Arbeitslosigkeit, deren Ursache und deren Lösung so falsch gelaufen ist, hängt also damit zusammen, daß die herrschende politische Elite entweder ihre eigene Schuld nicht einzusehen vermag oder vorsätzlich nach dem Prinzip "Haltet den Dieb!" andere als angeblich Verantwortliche vorführt, um damit von der eigenen Schuld abzulenken. Wir brauchen also einen Austausch der politischen Elite, damit frische, unbelastete junge Politiker die Fehler der alten Garde aufdecken, neue Lösungen – eigentlich die alten Lösungen unseres Wirtschaftswunder – aufgreifen und die politisch falsch gesetzten öffentlichen Rahmenbedingungen korrigieren.

 

Prof. Dr. Eberhard Hamer ist Leiter des Mittelstandsinstituts Niedersachsen.


 
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