© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/99 05. März 1999


Hauptstadt: Zur Diskussion um die Umbenennung des Reichstages
Paranoide Wahrnehmung
Baal Müller

Klammheimlich geisterte er in den letzten Tagen durch die Feuilletons. Von der Öffentlichkeit wurde er kaum zur Kenntnis genommen, vielleicht weil man ihn für zu abwegig hielt oder weil man sich an die üblichen medialen Geschichtsklitterungen bereits gewöhnt hat. Dennoch ist er kein vorgezogener Aprilscherz, sondern ein so bitterer Ernst, wie er dem Bundestagspräsidenten ins grämliche Gesicht geschrieben steht: Wolfgang Thierses Plan zur Umbenennung des Reichstags. Begründet wird er damit, daß der Begriff "Reich" nicht mehr zum modernen föderalen Bundesstaat passe.

Schon seit der 1991 erfolgten Entscheidung für Berlin als Bundeshauptstadt haben gewisse hauptamtliche Bedenkenträger immer wieder an dem Namen des 1884 bis 1894 von Paul Wallot errichteten und lange Zeit zum Museum degradierten Gebäudes herumgemäkelt, da der Reichstag – etwa nach Ansicht des SPD-Politikers Hermann Scheer – durch das Ermächtigungsgesetz der Nazis diskreditiert sei. Es bedarf schon einer sehr ausgeprägten Neigung zum Fetischismus, ein Gebäude für Ereignisse, die in ihm angeblich stattgefunden haben, haftbar zu machen; zudem ist dieses naive "Argument" bereits historisch schlicht falsch, da das Ermächtigungsgesetz in der dem Reichstag gegenüberliegenden Kroll-Oper verabschiedet wurde.

Der naheliegende und im Grunde vernünftige Einwand, es ginge nicht um das Gebäude, sondern um die Institution, kann von den Befürwortern der Namensänderung freilich nicht geltend gemacht werden, da die Umbenennung des Gebäudes dann ja unsinnig wäre; schließlich heißt die in ihm tagende Institution weiterhin "Bundestag". Mit banaler Logik werden die Namensänderer allerdings nicht zu überzeugen sein, geht es den Scheuklappenträgern doch wie üblich um die Zurechtstutzung der deutschen Geschichte auf das einzig für relevant gehaltene Maß: den Nationalsozialismus. Daß der Reichstag auch und ganz wesentlich andere Traditionen aufzuweisen hat, als die Tunnelsichtigen wahrhaben wollen, daß von einem seiner Fenster herab – von einem Sozialdemokraten! – die erste deutsche Republik ausgerufen wurde, haben heutige SPD-Politiker wie Thierse und Scheer geflissentlich vergessen. Der Reichstag muß schließlich für deutschtümelnden Pomp und Bombast, für monumentale Großmannssucht und steingewordenes nationales Pathos und vor allem natürlich für die allgegenwärtige braune Barbarei herhalten; allein so will ihn das primitive und wahrhaft versteinerte Weltbild der PC-Vorbeter.

"Geschichtsbewußtsein", "historische Verantwortung", "Lehren aus der Vergangenheit", "moralische Verpflichtungen" etc. verkommen zu bloßen Worthülsen, wenn die ideologischen Fixierungen nur eine derart eingeschränkte, geradezu paranoide Wahrnehmung der Geschichte gestatten. In Wirklichkeit hat der Reichstag eine beachtliche demokratische Tradition, die bereits mit den freien und geheimen Wahlen der wilhelminischen Ära begann und in der Weimarer Republik fortgesetzt wurde; außerdem impliziert auch der Begriff des Reiches für sich genommen keinen Zentralismus, wie Thierse behauptet, sondern er evoziert eine tausendjährige föderale Tradition in Deutschland.

Der 4. März wird für den Reichstag kein reicher, sondern eher ein armer Tag werden, denn an diesem Donnerstag wird der Ältestenrat des Bundestages über die völlig überflüssige – im Grunde peinliche und feige – Frage der Umbenennung entscheiden, und es steht sehr zu befürchten, daß er sich ein Armutszeugnis ausstellt. Insgesamt 29 Mitglieder der im Bundestag vertretenen Fraktionen sowie der Kanzleramtsminister Bodo Hombach gehören diesem Gremium an; davon stellt die SPD zehn Vertreter, die CDU/CSU neun, Bündnis 90/Die Grünen zwei und FDP und PDS jeweils einen. Dementsprechend ist die offizielle Abschaffung des Namens durchaus nicht unwahrscheinlich, wenn es sich nicht doch noch einige Abgeordnete anders überlegen. Es wird gemunkelt, daß die Mehrheit im Ältestenrat die vor Einfaltslosigkeit und nackter Armut nur so strotzende Formulierung "Plenarbereich" bevorzuge (der Reichstag wäre dann nominell nicht einmal ein Gebäude, sondern nur ein Stück abgegrenzter Raum); andere Kreationen, wie die von dem Germanisten (!) Thierse in Worte gefaßten Inspirationen "Plenargebäude" und "Plenarsaal" (als ob nicht jeder Saal in einem Gebäude wäre) hätten schlechtere Karten.

Ob man ihn nicht gleich "Mehrzweckhalle" nennen könne, fragte die Welt vergangenen Montag daher nicht ganz zu Unrecht; dann dürfte sich die Hauptstadt außer der großen Gedenkmehrzweckhalle, diesem Riesenlegoland aus Betonstelen, auch noch einer Debattiermehrzweckhalle rühmen (immerhin mit Glaskuppel, damit das Ganze schön offen und transparent aussieht). Tatsächlich gehören Gedenk- und Debattierbereich sehr eng zusammen, denn für die SPD-Abgeordnete Elke Leonhard beispielsweise ist es notwendig, die Frage nach dem Namen des Parlamentsgebäudes mit der Auseinandersetzung um das Holocaust-Mahnmal zu verbinden, die sie selbstverständlich schon bei der ersten regulären Sitzung des Bundestags Anfang Mai auf der Tagesordnung sehen möchte.

Vielleicht sollte man nicht so kleinlich sein und ernstmachen mit den Lehren, die Thierse & Co. aus ihrer Geschichte ziehen: Man müßte die beiden Mehrzweckhallen irgendwie kombinieren oder zusammenfügen oder gleich nur eine bauen – etwa an der Stelle, wo heute noch dieser faschistische Prunkbau steht. Freilich wäre der dann so zu behandeln, wie es Oskars künftige Koalitionslieblinge am Beispiel des Berliner Stadtschlosses vorexerziert haben.

Falls es aber doch nicht dazu kommt und man weiterhin der magischen Vorstellung anhängt, durch Umbenennungen auch die Geschichte ändern und auslöschen zu können, dann müssen wir uns wohl oder übel mit einem "Plenarbereich" oder ähnlichem abfinden. Der allgemeine Sprachgebrauch wird die Ausdrucksarmut der Thierses und Scheers sicher ignorieren.


 
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