© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/99 05. März 1999


CD: Pop
Selbstinszenierung
Peter Boßdorf

Wenn man das Budapester "Künstlerkollektiv" ACTUS unbedingt verharmlosen möchte, kann man sich auf die erbauliche Fama zurückziehen, daß da zum soundsovielten Male eine Brücke gebaut werde zwischen Kulturen, Epochen und was sonst noch alles verbindungsbedürftig erscheinen mag. Und tatsächlich betreibt diese Gruppe, deren Name für "Archaic Cultural Traditions United In A Society" steht, eine so schillernde wie geschmackssichere Selbstinszenierung, daß auch diese Exegese Nahrung findet: neben den unvermeidlichen Techno-/ Ritual-/ Industrial- und Minimal-Einflüssen wurden auch Spuren europäischer Klassik und Heimatklänge von Lhasa bis Tenochtitlan aufgenommen. Vielleicht ist mit diesem Synkretismus der Schaffensprozeß beschrieben, keineswegs jedoch das, was dann beim Hörer ankommt. Er wird auch auf der neuesten CD "Sacro Sanctum" (Cthulhu/ Triton) mit konzeptionell homogenen Manifestationen konfrontiert, die keinen Widerspruch zuzulassen scheinen. Was da kundgetan wird, soll offenbar nicht im Dunkeln bleiben, das englische Textheft zum ungarischen Originalgesang läßt es erahnen: eine Revolte gegen das, was die Moderne in ihrem Innersten zusammenhält, vorgetragen durch Kanonaden aus Sprechgesang, Pauke, Orgelklängen und allerlei mehr – eine liturgische Kampfansage voller Pathos und Selbstverständlichkeit. ACTUS produziert dabei einen zwar spartanischen, aber raumfüllenden Sound, der schnell Spannung aufbaut, diese mitunter aber nur mühevoll aufrechterhalten kann. Ansätze zu Neo Folk überbieten die west-europäischen Trendsetter dieses Genres durch den Mut, auf ironische Dissonanz zu verzichten und sogar folkloristische Eingängigkeit nicht zu scheuen. "Sacro Sanctum" wurde 1997 zum zehnjährigen Jubiläum des den Charme einer geordneten Epoche konservierenden Projekts live eingespielt – davon ist jedoch auf der CD nichts zu merken.

Bei Portishead ist immerhin die Beifallsbekundung des Publikums anläßlich jenes Konzerts am 24. Juli 1997 in New York zu hören, das – wie Pophistoriker vermuten – drauf und dran ist, zu den Höhepunkten glaubwürdiger Unterhaltung in diesem Jahrhundert gezählt zu werden. Videoaufzeichnungen dieses Ereignisses beweisen es nämlich: Portishead ist echt, es handelt sich um Musiker, die sich in ihrer Kunst verlieren, die sich vor einem potentiellen Millionenpublikum daheim an den Bildschirmen und vor den Lautsprechern so aufführen, als seien sie gänzlich unbeobachtet. Man zelebriert die Ausnahmeposition, in die man gestellt ist, und schafft es – trotz der Aufbietung eines 35köpigen Orchesters – exakt an jener Schwelle innezuhalten, die den Übergang zum Kitsch markiert, der durch alle Brechungen und Verzerrungen nur noch verstärkt würde. "roseland nyc live" (Go Beat/ Polydor) führt Songs aus den beiden CDs "Dummy" (1994) und "Portishead" (1997) zusammen und überbietet diese naturgemäß an Authentizität. Das Quartett zeigt sich nicht gestimmt, Lorbeeren für den ausgetüftelten Entwurf eines Trends zu ernten, sondern besticht durch das Geschick, Neues so darzubieten, als handele es sich um Altvertrautes. Portishead betreibt atmosphärisches Sampling und bringt jene Grautöne des Gemüts nahe, welche Menschen in der ersten Lebenshälfte einleuchten, sofern sie auch die Kinoklassiker goutieren. Für einen Augenblick läßt Portishead alle Peinlichkeiten vergessen, die Rick’s Bar an der Schwelle zum 21. Jahrhundert vermittelt.


 
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