© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/99 12. März 1999


Literatur: Zum 70. Geburtstag der Schriftstellerin Christa Wolf
An der Utopie festhalten
Andrzej Madela

Als sie, 51, den Büchner-Preis entgegennimmt, liegt der Gipfel ihrer Leistung noch vor ihr und die DDR ihr zu Füßen. Auch die Welt scheint, wenn auch nicht mehr in Ordnung, so doch noch geordnet: Im eisernen Griff der Ostsekretäre steckt längst Sprengstoff genug, Braunschweig und Atlanta in die Steinzeit zurückbomben. Allein der Kitt, der im Geistigen einst so viel zusammengehalten hat, ist arg verwittert und muß nun an unendlich vielen Stellen notdürftig erneuert, bei Materialmangel auch ersatzlos entfernt, werden. So gerät die DDR zu einer Republik der Brüche, ja sie ist die Bruchstelle selbst. Ein Moment des Übergangs: Die DDR-Intellektuellen haben ihre Illusionen schon hinter, ihr Staat die Pleite noch vor sich.

1980 ist Christa Wolf die unbestrittene Nummer eins ihrer Zunft, hochgeehrt, kulturpolitisch zwischen Moskau und New York herumgereicht und mit Auflagen bedacht, die so manchen Kollegen aus dem viermal größeren Zwitterland vor Neid erblassen lassen. Letzteres mag freilich ihre Bekanntheit im Westen erhellen; eine Erklärung für ihre Popularität in der DDR liefert es nicht. Der tiefste Grund ihrer Popularität berührt den ganz spezifischen DDR-Hunger nach wahrem Marxismus, geboren aus verrotteter sächsischer Industrie und zerfallenen Berliner Hinterhöfe, aus der täglichen Gängelei in Amt und Schule und der Trostlosigkeit vorsintflutlicher Betriebe samt ihrer Devisengeilheit. Dieser Hunger wächst bei ihren Romanfiguren in dem Maße, wie die Verkalkung seiner Hauptverwalter fortschreitet.

So findet sich auch Christa Wolf mit dem Grundgesetz des Schreibens in Diktaturen konfrontiert: Wo Realität zur Künstlichkeit vorkommt, muß Kunst die höchste Stufe von Realität darstellen. Das erklärt, warum "Nachdenken über Christa T." (1968), "Kindheitsmuster" (1976) und "Kein Ort. Nirgends" (1979) schlagartig so vieles in einem zu sein haben: Literatur und freie Presse, historischer Essay und Traktat zur modernen Ethik, praktizierte Philosophie und Aufsatz über gescheiterte Freiheit. Mit einem Wort: sie sind die ersehnte, aber nicht dagewesene DDR-Wirklichkeit. Je mehr aber der Traum von Offenheit und Freiheit sich in die stickige Luft des Preußenkommunismus auflöst, desto düsterer wird die Prosa und dunkler die Ahnungen ihrer Figuren, die bezeichnenderweise als Romantiker in Zeiten restaurierter Rundumschläge ihr Dasein fristen. Doch ob sie uns nun als wohlerzogene Fräuleins des 19. Jahrhunderts oder unsere Zeitgenossinnen entgegentreten: Jede davon vermittelt auf Anhieb den Eindruck, daß da eine große Hoffnung mit deutscher Gründlichkeit gegen den Baum fährt. Die Sehnsucht nach einem richigen Leben im falschen – muß sie nicht pervertieren unter der Herrschaft von Gralshütern, die sich, genauso wie Christa Wolf und etliche andere kritisch-loyale DDR-Autoren, auf Karl und Rosa berufen?

Das ist der Moment der Entscheidung, auf die so viele warten. In ihrem reifsten Werk, den Vorlesungen zur Erzählung "Kassandra", sind reichlich Spuren einer Auseinandersetzung zu finden, die Marxismus – zusammen mit Rationalität, Wissenschaft und Technik – als eine janusköpfige Erscheinung der Moderne begreift: erhellend in der Anfangsphase seiner Wirkung, doch nun immer versteinerter, kleinformatiger, verengter. Ist er, so lesen wir, auch nur das Abfallprodukt einer Aufklärung, die den Menschen längst aufgegeben und nur noch "Machbarkeit" im Sinn hat? Zu einer radikalen Antwort darauf mag sie sich nicht entschließen. Und so wie die Autorin Christa Wolf die Utopie nicht preisgibt, so geraten auch die Vorlesungen zu einem Kompromiß. Der reale Sozialismus müsse seine harte, "männliche" Variante um "milde" Werte ergänzen, sonst sei er dem Untergang geweiht. Der Respekt vor der Natur müsse wieder her, Wissenschaft und Technik gehören vernünftig begrenzt und Gewalt als Mittel der Politik verworfen.

Die da aus den Vorlesungen spricht, sieht ganz exakt, wie ihre Utopie vor die Hunde geht. Aber sie glaubt noch an eine Selbstheilung: Nicht eine gänzlich andere Gesellschaft soll’s richten, sondern die Herrschenden sich ändern. Eine Selbstreform wird anvisiert, die – bei unangetasteten Machtverhältnissen – auf den ethischen Wechsel bei den Regierenden setzt und mangels entsprechender Druckmittel nur den rhetorischen Appell an sie bemühen kann.

Daß der Traum mittlerweils am bayerischen Milliardentropf hängt und nur noch dank konzentrierter Devisenspritzen Leben vortäuschen kann, ist für Jüngere oft Grund genug, die Brocken hinzuwerfen. Christa Wolf hat in "Kassandra" ihre endgültige Antwort nochmals aufgeschoben. Um so gespannter ist dann die Erwartung, als ihre letzten DDR-Bücher erscheinen: "Störfall" (1987) und "Sommerstück" (1988). Wird sie nun, am Vorabend des Untergangs der DDR, den faulen Kompromiß der "Vorlesungen" verwerfen?

Sie wird es nicht. Nicht genug damit, daß beide Bücher weder ideell noch formal das Niveau der "Vorlesungen" halten können. Schwerer wiegt, daß sich die Autorin letztlich zum Verbleib im Reich der Utopie durchgerungen hat. Und die Aufenthaltsgenehmigung dafür ist eine kostenträchtige Angelegenheit. Denn jetzt muß Christa Wolf beweisen, wie sie sich "harten" und "milden" Marxismus unter einem Himmel vorstellt – und das angesichts einer bereits tödlich angeschlagenen DDR, deren Bevölkerung schon bald ihren Staat zu Grabe tragen wird.

Die Beweislage in ihren Büchern ist dünn und die Argumentation durchsichtig. So fällt der nicht näher bezeichneten Schriftstellerin in "Störfall" buchstäblich "keine Adresse" in der DDR ein, wo sie einen fragwürdigen Einsatz von Kernenergie vermutet, obwohl sie gerade vom Tschernobyler Desaster das Allerschlimmste erwartet. Auch die Personnage von "Sommerstück", eindeutig als Solidargemeinschaft kritischer Geister gemeint, gerät ihr unwillkürlich zu einem reichlich weltflüchtlerischen Haufen gerade noch geduldeter Naivlinge, die ihr genehmigtes Nischendasein als Freiheit mißverstanden. Besonders den seltsam ungreifbaren Zeit- und Ortsumständen und den nachgerade hölzernen Meinungsträgern in "Sommerstück" ist der horrende Preis anzusehen, den Christa Wolf für ihr Festhalten an der Utopie zu bezahlen hat.

So endet ihre intellektuelle Geschichte fast zeitgleich mit der Implosion der DDR, der sie bis zuletzt die Treue hält. Weder fähig, die Utopie zu verwerfen (wie der frühere Marxist Günter Kunert) noch das Instrumentarium der Kritik radikal zu erneuern ( wie etwa Volker Braun), erntet sie mit "Was bleibt" (1990) und "Auf dem Wege nach Tabon" (1994) peinliche, weil vermeidbare Niederlagen. Es steht zu vermuten, daß Christa Wolf, die am 18. März ihren 70. Geburtstag feiert, schon in wenigen Jahrzehnten nur noch eifrige Germanisten beschäftigt wird.


 
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