© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/99 12. März 1999


Ende der Vernunft
von Folkmar Koenigs

Der Schlichter Hans-Jochen Vogel wertet die Einigung der Tarifpartner der Metallindustrie in Baden-Württemberg als großen Erfolg und Beweis für die Fähigkeit der Arbeitgeber und Gewerkschaften, im Rahmen der Tarifautonomie zu sachgerechten Lösungen zu kommen. Eine solche Würdigung eines Tarifabschlusses hängt von dem Urteil ab, welchen Zielen die Tarifpolitik mit Vorrang dienen soll. Die gerechte Verteilung zwischen Kapital und Arbeit, eine angemessene Beteiligung der Arbeitnehmer und seiner Familie ausreichender Lohn sind abstrakte Größen; ihre Höhe hängt weitgehend von subjektiven Bewertungen ab. Übliche konkrete Maßstäbe sind der Ausgleich der Inflationsrate und die erreichte und zu erwartende Steigerung der Produktivität. Der Wert dieser Meßgrößen bleibt für die Bewertung der Richtigkeit eines Tarifabschlusses offen, ob es gerechtfertigt ist, daß die Arbeitnehmer des betreffenden Wirtschaftszweiges eine Lohnerhöhung in voller Höhe der Inflationsrate und der Steigerung der Produktivität beanspruchen und oft erhalten, während große Teile der Bevölkerung entsprechende Einkommensverluste hinnehmen müssen. Jedenfalls wenn sie nicht für ihre Leistungen ebenfalls ein gleichhohes Entgeld durchsetzen können oder als Angehörige des öffentlichen Dienstes oder Rentner einen Ausgleich aus öffentlichen Mitteln erhalten – mit nachteiligen Folgen für die Inflationsrate. Eine Umverteilung zwischen den Faktoren Arbeit und Kapital, die zu einem von der Kapitalseite als unangemessen angesehenen Ergebnis führt, gelingt nach aller Erfahrung allenfalls durch Einsatz entsprechender Macht kurzfristig. Wenn der Wettbewerb wie meist eine Preiserhöhung auf die Dauer nicht zuläßt, reagiert die Kapitalseite meist schon kurzfristig mit Entlassungen, mindestens mit Unterlassungen von Investitionen, als deren Folgen geringe Wettbewerbsfähigkeit und Entlassungen.

Angesichts der unerträglichen hohen Arbeitslosigkeit ist es mit Recht das erklärte Ziel der Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften, die Zahl der Arbeitslosen zu verringern. Daher muß Maßstab für die Richtigkeit der Tarifpolitik auch ihre Wirkung auf die Arbeitslosigkeit sein. Bei dieser Würdigung ist von einem durch die ökonimische Realität bestätigten Sachverhalt auszugehen. Unternehmen der Privatwirtschaft stellen Arbeitnehmer nur ein und beschäftigen sie weiter, wenn sie dadurch einen Gewinn oder zumindest keinen Verlust erwirtschaften, wenn also der potentielle Wert der von den Arbeitnehmern erbrachten Leistung (Produktivität), zumindest die Kosten dieser Leistung (Lohn) deckt. Etwas anderes gilt nur für Unternehmen in Staatseigentum, deren Verluste ggf. durch den Staat gedeckt werden, oder den öffentlichen Dienst. Die gegenwärtige hohe Arbeitslosigkeit beruht weitgehend darauf, daß die von den Tarifparteien vereinbarten Löhne höher sind als der Wert der Leistungen dieser Arbeitslosen für die Unternehmen (Produktivität). Daraus folgt: Um die Zahl der Arbeitslosen zu verringern, müssen die Tarifparteien Lohnerhöhungen vereinbaren, die unter der Rate der Steigerung der Produktivität liegen. Eine Lohnerhöhung genau in Höhe der Produktivitätsrate führt nur dazu, daß die vorhandenen Arbeitsplätze erhalten bleiben, aber keine neuen Arbeitnehmer eingestellt werden; eine über die Steigerung der Produktivitätsrate hinausgehende Lohnerhöhung gefährdet Arbeitsplätze. Bei Abnahme oder Zunahme der Nachfrage verändert sich dieser Wirkungszusammenhang nur graduell nach oben oder unten, aber nicht grundsätzlich.

Ein Abschluß von 3,2 Prozent Lohnerhöhung und einmaliger Zahlung von 1 Prozent des Jahresverdienstes liegt erheblich über der für 1999 zu erwartenden Erhöhung der Produktivität, nach dem Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung 1,5 Prozent, nach Ansicht der Gewerkschaften 2,5 Prozent und über der zu erwartenden Inflationsrate von weit unter ein Prozent – Ende 1998 0,2 Prozent, von der IG-Metall kalkuliert mit etwa 1,5 Prozent. Nach Angabe der Metallindustrie erreichen die Kosten dieses Tarifabschlusses etwa ein Drittel des Jahres 1998 von der Metallindustrie erzielten Gewinns. Die IG-Metall rechtfertigt eine solche über die zu erwartende Steigerung der Produktivität und Inflationsrate hinausgehende Lohnerhöhung mit den hohen Gewinnen der Metallindustrie, einer eingetretenen Schieflage der Verteilung zwischen Kapital und Arbeit und einem erforderlichen teilweisen Ausgleich der Einkommenseinbußen in den vergangenen Jahren (IG-Metall Vize Peters FAZ 17.2.1999). Dabei wurde dieser Einkommensverlust zu einem erheblichen Teil durch höhere Sozialversicherungsbeiträge und Steuerprogressionen verursacht. Während große Teile der Bevölkerung Einkommensverluste durch Inflation, höhere Sozialversicherungsbeiträge und Steuern hinnehmen müssen, beansprucht also die IG-Metall für ihre Mitglieder als selbstverständliches Recht einen Ausgleich.

Der Abschluß in Baden-Württemberg, von der IG-Metall wegen seiner besonders gut verdienenden Industrie als Pilot-Bezirk gewählt, ist inzwischen von den anderen Tarifbezirken in Westdeutschland und auch bereits in einem Teil der neuen Bundesländer mit teilweise nur geringen Änderungen übernommen worden. Dieser Flächentarif mit einer nur sehr begrenzt wirksamen Flexibilitätsklausel und ohne die von den Arbeitgebern geforderte Flexibilität der Einmalzahlung bei unzureichendem Gewinn oder bei Verlust soll also für alle Unternehmen von Daimler-Chrysler bis zu gerade erst privatisierten Ost-Unternehmern gelten. Als Folge ist eine Zunahme der Tarifflucht oder Unterschreiten des Tarifs im Einvernehmen mit der Belegschaft zu erwarten. Der Tarifabschluß in der Metallindustrie wird ferner als Bezugsgröße in die Tarifverhandlungen aller anderen Wirtschaftszweige eingehen und entfaltet so eine Wirkung für die gesamte Entwicklung der Wirtschaft im Jahre 1999. Im öffentlichen Dienst hat er bereits zu einer weit über die Inflationsrate hinausgehenden Entgelterhöhung um 3,1 Prozent mit zusätzlichen Kosten allein für die Angestellten und Arbeiter von sechs Milliarden geführt; noch offen die Erhöhung für die Beamten.

Nicht nur nach Ansicht der überwiegenden Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler, sondern auch nach den Erfahrungen anderer Länder, insbesondere derUSA, aber auch Deutschlands entstehen neue Arbeitsplätze in erheblichem Umfang auf die Dauer nur bei Lohnerhöhung unterhalb der Steigerungsrate der Produktivität Daher fordern die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank, die Bundesbank und der Sachverständigenrat für die Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung ("Fünf Weise") einhellig entsprechende Tarifabschlüsse zur Überwindung der gegenwärtigen nicht konjunkturbedingten, sondern strukturellen Arbeitslosigkeit. Der Tarifabschluß in der Metallindustrie ist daher zwar gut für die Inhaber von Arbeitsplätzen, falls sie ihren Arbeitsplatz nicht als Folge dieses Tarifabschlusses verlieren, aber ganz schlecht für die gegenwärtig Arbeitslosen und die Jugendlichen, die neu auf den Arbeitsmarkt kommen. Maßnahmen zur Umverteilung der Arbeit – Abbau von Überstunden, früherer Übergang in die Rente, Teilzeitarbeit – werden aus tatsächlichen Gründen oder mit hohen Kosten nur zu einer geringen Zahl zusätzlicher Arbeitsplätze führen. Durch staatliche Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung entsteht weitgehend nur ein zweiter künstlicher Arbeitsmarkt, ohne laufende staatliche Zuschüsse entfallen diese Arbeitsplätze wieder.

Die Ursache für eine solche Fehlentwicklung ist die schwerwiegend gestörte Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie. Die Tarifautonomie ist eine grundsätzlich richtige und zu erhaltende Entscheidung. Damit sie zu gesamtwirtschaftlich angemessenen Ergebnissen führt, setzt die Tarifautonomie aber ein Machtgleichgewicht der Tarifparteien voraus. Dieses Machtgleichgewicht ist gegenwärtig nicht gegeben. Die Kampffähigkeit der Arbeitgeber ist entscheidend verringert wegen ihrer hohen Verwundbarkeit durch Streiks nur einer kleinen Zahl von Arbeitnehmern aufgrund der just-in-time-Fertigung der Gefahr des Verlustes von Marktanteilen auf den Exportmärkten bei zeitweiliger Lieferunfähigkeit als Folge des scharfen internationalen Wettbewerbs und durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Arbeitskampf. Entscheidend geringer ist auch ihre Kampfbereitschaft. Es ist für die Arbeitgeber nicht wirtschaftlich sinnvoll, hohe Verluste durch einen Streik auf sich zu nehmen und obendrein von den Medien, einem großen Teil der Öffentlichkeit und oft auch noch von der Regierung verurteilt zu werden. Für die Mehrzahl der Unternehmen ist es wirtschaftlich besser, notfalls auch eine überhöhte Lohnforderung zu akzeptieren und sie durch Rationalisierung, oft verbunden mit der Entlassung von Arbeitnehmern, soweit durchsetzbar durch eigene höhere Preise und vor allem durch teilweise oder vollständige Verlagerung der Herstellung in das Ausland oder Bezug von dort aufzufangen. Dieser Ausweg, das "Korea vor der Haustür", ist aufgrund der Europa-Verträge der EU mit den Staaten des mittleren und östlichen Europas und zunehmend auch mit den Mittelmeerländern entscheidend erleichtert worden.

Um die Tarifautonomie und den Flächentarif in ihrer Funktionsfähigkeit zu erhalten, müssen die Tarifparteien zu wesentlich anderen Vereinbarungen kommen – Orientierung an der Produktivität; ausreichende Flexibilität der Arbeitszeit, um den Unternehmen die Anpassung an eine wechselnde Nachfrage zu ermöglichen; Berücksichtigung der unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Unternehmen durch Abschlüsse, die nicht an den leistungsfähigen Unternehmen des Wirtschaftszweiges orientiert sind, als Ergänzung vom wirtschaftlichen Erfolg anhängige Entgeltbestandteile; Möglichkeit einer Abweichung von den Tarifvereinbarungen zur Sicherung der Beschäftigung. Das erfordert insbesondere bei der IG-Metall ein grundsätzliches Umdenken. Die Bereitschaft zu einem solchen Umdenken wird deutlich in der Berliner Erklärung der IG-Bergbau Chemie Energie und der entsprechenden Arbeitgeberverbände vom 10. Februar 1999, aber auch aus den von der IG-Metall bisher abgelehnten Verschlägen der Arbeitgeber. Diese Fragen müssen daher Gegenstand der weiteren Gespräche im Rahmen des Bündnisses für Arbeit sein.

 

Prof. Dr. Folkmar Koenigs , Jahrgang 1916, lehrt Handels- und Wirtschaftsrecht an der Technischen Universität (TU) Berlin.


 
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