© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/99 19. März 1999


Cliquen, Klüngel, Karrieren: Die EU-Kommission mußte zurücktreten
Sie plündern Europa
Michael Wiesberg

Nach dem im Januar gescheiterten Mißtrauensvotum gegen die EU-Kommission hat die Europäische Union nun also doch noch ihren Super-Gau: Am frühen Dienstagmorgen erklärte Kommissionspräsident Jacques Santer: "Im Lichte des Berichts von heute (Montag) hat die Kommission einstimmig beschlossen, kollektiv zurückzutreten." Damit übernahm die 20köpfige EU-Kommission die Verantwortung für die ihr vorgeworfene massive Mißwirtschaft. Die Untersuchungskommission bescheinigt der Mannschaft Santers pauschal, die Kontrolle über die Brüsseler Bürokratie verloren zu haben. Dieses Urteil kommt einem Mißtrauensvotum gegen den gesamten institutionellen Apparat der Europäischen Union gleich, gehen doch von der EU-Kommission die Initiativen für Richtlinien, Gesetze und Entscheidungen der EU aus. Ohne die Vorschläge der Kommission kann das höchste Organ der Union, der Ministerrat, in der Regel keine Beschlüsse fassen. Die Kommission steht einem Riesenheer von etwa 18.000 Beamten vor. Jeder Kommissar verwaltet sein Ressort wie ein Minister.

Diese Zahlen verdeutlichen, daß die EU inzwischen einen kaum noch zu überblickenden bürokratischen Wasserkopf geschaffen hat, der unentwegt weiter wächst. Es verwundert daher nicht, daß der "Rat der Weisen" zu dem Ergebnis kam, daß viele Kommissare über die Praktiken in ihren Dienststellen nicht mehr im Bilde seien. Wörtlich stellen die Sachverständigen fest: "Der Kontrollverlust bedeutet von Anfang an eine schwere Verantwortung sowohl jedes einzelnen Kommissars als auch der Kommission als Ganzes."

Damit geht der Bericht weit über die bisher ruchbar gewordenen Fälle von Betrug und Günstlingswirtschaft hinaus. Patronage, das Engagement von Verwandten oder Bettgefährten bzw. die Korruption mittlerer Beamter sind in Brüssel inzwischen eine zu vernachlässigende Größe. Das Verschieben des ganz großen Geldes, und darum geht es in dem Bericht des "Rates der Weisen" in der Substanz, blieb bisher im dunkeln.

Einer der wenigen, der im Hinblick auf die skandalösen Vorgänge in Brüssel bisher Klartext geredet hat, ist der französische Autor Raymond Barres, der ein einschlägiges Buch ("Die Plünderung Europas") publiziert hat. Darin zeigt Barres auf, wie in der Zeit der Präsidentschaft Delors französische und spanische Sozialisten in Schlüsselstellungen plaziert worden sind, die einen direkten Einfluß auf Ausgabenprogramme wie die Forschungsförderung, die Mittelmeer- und Lateinamerikaprogramme bzw. auf große Teile der Agrarmarktinterventionen ermöglichen.

Nach dem Abgang von Delors übernahmen die Kommissare Marín und Cresson die Führung über den von Delors geschaffenen sozialistischem Filz von Patronage und Vorteilsnahme. Daß die Begünstigten ohne Wenn und Aber die Kommissare Marín und Cresson unterstützten, ist bei dieser Ausgangslage folgerichtig. Die französische Sozialistin Edith Cresson, deren Amtsführung das größte Ärgernis innerhalb der EU-Kommission darstellte, ist sich bezeichnenderweise nach wie vor keiner Schuld bewußt. Sie räumte zwar am Dienstagmorgen "gewisse Fehler" ein, beeilte sich aber hinzuzufügen, daß sie "im allgemeinen eine gute Arbeit geleistet" habe. Cresson hat mit dieser Äußerung ein neuerliches Beispiel für ihren inzwischen berüchtigten Unwillen gegeben, auch nur einen Hauch von Selbstkritik zu üben.

Der Brüsseler Sumpf aus Vorteilsnahme, Betrug und Korruption verdeutlicht, daß sich weder die Mitglieder der EU-Kommission noch die EU-Parlamentarier als Träger eines gesamteuropäischen Mandates verstehen. Kommissionsmitglieder und Parlamentarier sehen sich statt dessen als verlängerten Arm gewisser Interessengruppen in den nationalen Parlamenten und Regierungen. So besteht wenig Hoffnung, daß das institutionelle Demokratiedefizit, das für die Europäische Union von jeher charakteristisch ist, nach dem Rücktritt der EU-Kommissare beseitigt werden könnte. Der inzwischen eng gewobene Filz mit seiner gewollten Intransparenz bei den weitgehend dunklen Entscheidungsprozessen über die Ausgabenprogramme wird auch mit neuen Kommissaren Bestand haben. Wohl auch deshalb begrüßte der Vorsitzende der französischen Sozialisten, François Hollande, den Rücktritt der EU-Kommission. "Die politische Verantwortung hat sich durchgesetzt", sagte Hollande und sprach von "einem Sieg der europäischen Demokratie".

Die elf sozialistisch geführten Regierungen innerhalb der EU haben nach wie vor kein größeres Interesse, zu wirklich einschneidenden Reformen auf EU-Ebene zu kommen. Der deutsche Steuerzahler wird daher auch in Zukunft jene dubiosen "Umverteilungspraktiken" finanzieren dürfen, die laut EU-Propaganda zu einer "Angleichung der Lebensverhältnisse" in Europa führen sollen. Dieser Euphemismus gehört wohl zu den unverschämtesten Umschreibungen, mit denen die Vorteilsnahmen und die Selbstbereicherung in Brüssel vernebelt wird.


 
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