© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/99 26. März 1999


Ostalgie: Der sächsische Verein "Brücke zur Arbeit" handelt mit Waren "Made in GDR"
Elbflorenz im Sammelfieber
Uwe Ullrich

Wir verlassen die frühmorgendlich hellerleuchtete Altstadt Dresdens in Richtung Westen. Unser Ziel liegt in der Arbeitervorstadt Löbtau. Vorbei am World Trade Center und durch die Eisenbahnunterführung gefahren, liegt linker Hand der Jagdweg. Hier hat der Malteser Hilfsdienst sein Dresdner Domizil. Verschiedene kleine Firmen und Dienstleistungsunternehmen finden in dem großen Gebäudekomplex mit seinen weitläufigen Freiflächen Unterkunft. Ein Hinweisschild am Kellereingang verweist auf den Förderverein "Brücke zur Arbeit", Ziel unseres heutigen Besuches.

Vor der spärlich beleuchteten Treppe und der Eingangstür warten einige Frauen und Männer. Sie plaudern, rauchen oder warten schweigend, bis ihnen Einlaß gewährt wird. Als Jürgen Kluge, Vorsitzender des Vereins, kurz nach halb sieben Uhr erscheint, öffnet sich ihm eine Gasse. Er schließt die Stahltür auf, und alle drängen sich in den riesigen Kellerraum, der als Verkaufsraum dient. Vorbei an Tischen und Stühlen, vorbei an Kühlschränken, Elektroherden, Rundfunk- und Fernsehgeräten gelangen wir zum Unterkunftsraum. Während die Kaffeemaschine die ersten Tassen brüht, erläutert Michael Manz, der den Betriebsablauf überwacht, seinen Kraftfahrern und Beifahrern der ersten Schicht die zu fahrenden Touren. Kurz nach Sieben rollen die ersten Fahrzeuge vom Hof. Die Reinigungskräfte beginnen ihr Tagewerk, in der Elektrowerkstatt wird eine Waschmaschine geprüft, in der hintersten Geschoßecke kündet eine Kreissäge von der Gegenwart einer Tischlerwerkstatt.

Mittlerweile ist auch der zweite Vereinsvorsitzende, Peter W. Wölki, eingetroffen. Er gilt im Haus als der "kaufmännische Rechner". Seine Unternehmensphilosophie läßt sich mit wenigen Worten beschreiben: Eine schnelle Mark machen, Massenware zu niedrigen Preisen auf den Markt werfen. Inzwischen, nach der Erfahrung der ersten Verkaufsmonate, sortiert das Unternehmen das aus, wofür es "richtig Geld" gibt, so Wölki. Die schmucklosen Werbeprospekte wenden sich an ein breites Kundenpotential. "Sachsens erstes Second-Hand-Kaufhaus" oder "Umzüge und Beräumungen mit unseren kleinen, neuen Umzugsflitzern, preiswert, schnell und sicher!" steht darauf zu lesen.

Mehr als 50 Arbeitsplätze wurden bereits geschaffen

Mitte 1997 war Peter W. Wölki nach einem mehrjährigen Zwischenspiel als polnischer Briefmarkenhändler nach Deutschland zurückgekehrt. Ein erstes Unterkommen fand er mit seinen beiden minderjährigen Söhnen im Obdachlosenheim in Dresden. Die Verwaltungsbürokratie hinderte ihn an einer schnellen Reintegration. Der gebürtige Norddeutsche und "Wessi" wollte nicht untätig auf irgend etwas warten. Die Idee, ein Zweite-Hand-Geschäft aufzubauen, wurde in dieser Zeit geboren. Mitstreiter fanden sich bald, und im Dezember 1997 gründete sich der Förderverein "Brücke zur Arbeit". Seitdem engagieren sich neben ihm der diplomierte Philosoph Jürgen Kluge als Vereinsvorsitzender und Uwe Lamprecht als Schatzmeister und Geschäftsführer der "Dresden-Consult Projektgesellschaft mbH Unternehmenberatung, Kalkulation und Controlling", einem mittlerweile mittelständischen Unternehmen.

Von Beginn an rangierte das Ziel, Arbeitsplätze für sozial Benachteiligte zu schaffen, an erster Stelle. Aus der privaten Initiative entstand im Verlauf der Zeit eine Anlaufstelle für arbeitswillige körperlich oder geistig Behinderte, Langzeitarbeitslose und Jugendliche ohne Lehre oder Abschluß. Nach fast einem Jahr Unternehmenstätigkeit sind mehr als 50 Personen durch Dauerarbeitsplätze fest ins Tagesgeschehen integriert. Und das ohne städtische oder staatliche Fördermittel. Finanzielle Unterstützung erfährt der Verein nur auf rechtlicher Grundlage. Nach Antragstellung zahlt das Arbeitsamt für Langzeitarbeitslose entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen Lohnbeihilfen für höchstens ein Jahr und das Versorgungsamt Zuschüsse für behinderte Arbeitnehmer. In Dresden, Görlitz und Hamburg arbeiten Fahrer, Transportarbeiter, Sortiererinnen, Verkaufspersonal, Reinigungskräfte, Elektriker und Tischler. Der Verwaltungsaufwand wird bewußt gering gehalten. Nur Lohnbuchhaltung, Finanzwesen und eine Schreibkraft halten den notwendigen Schriftverkehr aufrecht.

Aufgrund ihrer Behinderung, der fehlenden Ausbildung oder als Langzeitarbeitslose besaßen alle Mitarbeiter des Fördervereins kaum eine Möglichkeit, auf dem ersten Arbeitsmarkt einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu erhalten. Nun gehen sie einer regelmäßigen Tätigkeit nach und sind nicht mehr von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe abhängig.

Die Unternehmensstrategie des Vereins, dem die Gemeinnützigkeit zuerkannt wurden, ist einfach: Er nimmt Spenden entgegen, holt brauchbare Gegenstände bei der Bevölkerung ab und führt komplette Haushaltsauflösungen durch. Das Motto lautet: "Wir reduzieren die Müllberge und schaffen dadurch Arbeitsplätze." Kleidung wird sortiert, gereinigt und gelangt in den Billigverkauf. Dasselbe geschieht mit Haushaltsgegenständen, Elektronik und Möbeln. Aber auch Bücher und Schallplatten sind im Angebot und werden verstärkt gesucht. Vor allem in der Hamburger Filiale, dem "(N)OSTalgie-Warenhaus" in der Hammerstraße, sind "Markenprodukte" mit dem Verbraucherhinweis "Made in GDR" besonders gefragt, berichtet der Vereinsvorsitzende.

Inzwischen sind die ersten Kunden im Second-Hand-Kaufhaus auf der Suche. Geschäftig eilen die Verkäuferinnen herbei, um zu bedienen und zu beraten. Wir begleiten den zweiten Vereinsvorsitzenden durch das Haus. "Oh, diese Tischler, wenn man nicht alles selbst macht! Viel zu dunkel gebeizt! Meine Herren, das nächste Mal wird ein Probeanstrich auf der Rückseite angebracht." Schon geht es weiter. Unser Ziel ist die dritte Etage. Dort ist die Sortierabteilung untergebracht. Kleidungsstücke, Geschirr, Lampen. Es ist das Reich von "Jack". Er sortiert mit "seinen" Frauen die angelieferten Spenden, trennt den Weizen von der Spreu. Der frühere Antiquitäten- und Kunsthändler aus dem Schwäbischen legt beiseite, was besonderer Behandlung bedarf. Dafür muß der Käufer etwas mehr bezahlen. Nachdem wir in die Kellergeschoßebene zurückgekehrt sind, kommt uns Herr Lamprecht eilig entgegen. Ich höre nur das Wort "Krisensitzung". Schnell informiert Peter Wölki telefonisch Professor Harald Marx von der Gemäldegalerie "Alte Meister", daß er den vereinbarten Termin nicht einhalten kann, und vereinbart einen neuen. Mir wirft er nur kurz hin, daß es Probleme mit der Hausbank gebe, drückt den Geschäftsbericht 1997 der Bank für Sozialwirtschaft in meine Hände und verschwindet.

Erforderlich ist ein solides Finanzierungskonzept

Über finanzielle Probleme und die strengen Auflagen des Geldinstituts sprach er bereits im vorangegangenen Gespräch, deutete Schwierigkeiten an. "Auch die müssen in der jetzigen Zeit anders wirtschaften. Das Verteilen des Geldes nach dem Gießkannenprinzip ist vorbei. Jeder braucht ein hieb- und stichfestes Finanzierungskonzept, auch wir", meint Peter Wölki.

Die 1923 in Berlin gegründete Bank für Sozialwirtschaft widmet sich sozial ausgerichteten Projekten. Im Aufsichtsrat der Bank sitzen neben Vertretern der Caritasverbände auch die Arbeiterwohlfahrt, das Diakonische Werk, das Deutsche Rote Kreuz und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Durch die Öffnung des europäischen Marktes verschoben sich die Relationen der staatlichen Zuwendungspraxis. "Die skizzierten Entwicklungen verlangen von den Trägern, Einrichtungen und Diensten, eine marktbezogene Geschäftspolitik explizit zu formulieren und zu betreiben, eine Neupositionierung im Verhältnis zu den Kunden und Mitanbietern vorzunehmen, zeitgemäße betriebswirtschaftliche Instrumentarien einzuführen und anforderungsgerecht Managementkompetenz zu entwickeln."

Die Krisensitzung ist vorüber. Nun kann sich dem aktuellen Problem zugewendet werden. In Hamburg schenkte eine ältere Dame ihren gesamten Nachlaß dem Förderverein "Brücke zur Arbeit". Nach Dresden kamen mehrere LKW-Ladungen Biedermeiermöbel und andere Stilmöbel, Geschirr und Haushaltsgegenstände, der komplette schriftliche Nachlaß in meterlang aneinandergereihten Aktenordnern – einschließlich transkribierter Tagebuchaufzeichnungen vom Beginn des 19. Jahrhunderts –, dazu Alben, Bücher, Schallplatten und Gemälde. Eines der Gemälde könnte ein echter Annibale Carracci (1560 – 1609) sein. Aufklärung soll die Inaugenscheinnahme des Bildes durch Professor Marx geben. Wir fahren zum Zwinger und suchen den Kunstexperten auf. Als er das in zwei Decken gehüllte und mit einer Schnur umschnürte 70 mal 50 Zentimeter große Kunstwerk sieht, kann er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Herr Marx betrachtet eingehend das Gemälde mit den zwei Nymphen, einem Amor und einen Satyr und stellt fest, daß dies wohl kaum ein Carracci sei. Aber das Bild ist so alt wie angenommen und als frühbarocke Malerei erkennbar. Die Brüder Carracci und deren Vetter Ludovico betrieben gemeinsam in Bologna eine Werkstatt, die von Auftraggebern und Schülern außerordentlich gesucht war.

Der Nachmittag ist schnell vergangen. Zuerst gehen die Handwerker und Sortiererinnen, später die Verkäuferinnen. Noch immer werden Probleme gewälzt, die Tagesereignisse ausgewertet und die Arbeiten für den kommenden Tag geplant. Zur Sprache kommt auch das künftige Dresdener Domizil des Fördervereins. Die baulichen Angebote müssen verglichen, die verkehrsmäßige Erschließung betrachtet und finanzielle Möglichkeiten erwogen werden. Auch die Herausgabe eines monatlich erscheinenden *N*OSTalgie-Magazins, das zu Beginn des zweiten Quartals 1999 erstmals auf den Markt kommen soll, wird in Erwägung gezogen.

Kurz nach 21 Uhr verlassen wir die Räumlichkeiten. "Heute gehen wir etwas früher. Sonst sitzen und diskutieren wir länger", stellt Peter W. Wölki mit einem verschmitzten Lächeln fest, "auch an Sonn- und Feiertagen. Irgendwie wollen wir unser Ziel erreichen und unsere Zukunft auf dem Markt erhalten. Das sind wir unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schuldig."

Förderverein "Brücke zur Arbeit" e.V., Jagdweg 1-3, 01159 Dresden. Außenstelle Görlitz: Hospitalstr. 43.

(N)OSTalgie-Warenhaus Hamburg, Hammerstr. 2, 22041 Hamburg


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen