© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/99 26. März 1999


Polen: Der Beitrittskandidat zur EU ist Agrarland, und die Landwirtschaft hat ihre Probleme
Die bäuerliche Idylle ist trügerisch
Albrecht Rothacher

Die Idylle trügt: Landleute bringen die Heuernte mit Sense und Ochsenkarren ein. Die Kartoffeln werden händisch geerntet. Gepflügt wird mit Pferdegespannen. Der Ziehbrunnen ersetzt die Wasserleitung und den Kühlschrank. Die unfreiwillige Ökotechnologie des 19. Jahrhunderts illustriert die Verelendung vieler Klein- und Kleinstbauern und die verschleppten Strukturprobleme des polnischen Argarsektors.

Mit zwei Millionen Höfen und 3,7 Millionen Bauern und Landarbeitern (26 Prozent der Beschäftigten) steuert der Sektor gerade sechs Prozent zum BIP bei. Nachdem die Kollektivierungsversuche 1949–56 in Altpolen kläglich gescheitert waren, gibt es heute noch 1.500 Staatsgüter mit durchschnittlich 2.000 Hektar Fläche und 1.700 landwirtschaftlichen Genossenschaften mit im Schnitt 400 Hektar Ackerland, fast ausschließlich in den annektierten deutschen Ostgebieten.

Strukturwandel wird durch die Bauern gebremst

Die kollektivierten Höfe bewirtschaften 23 Prozent der Nutzfläche. Obwohl zu Zeiten des realen Sozialismus im Gegensatz zu den vernachlässigten Kleinbauernstellen mit Gerät, Kapital und Agrarchemikalien privilegiert, haben die meisten heute Schwierigkeiten. 300.000 Landarbeiter wurden entlassen. Die Konkurse der Staatsgüter führten dazu, daß große Teile Pommerns heute Grünbrache sind. Dagegen werden trotz häufig schlechter Böden zwei Millionen Familienbetriebe (Durchschnittsgröße: 7 Hektar) in Altpolen intensiver bewirtschaftet.

Sie waren nach dem zwangsweisen Verkauf und den Enteignungen des Großgrundbesitzes der Magnaten, des niederen Adels (der Schlachta), der Kirche und der Volksdeutschen im Zuge der Landreformen von 1920 und 1946/ 48 entstanden und verkleinerten sich durch Erbteilungen weiter. Von den Höfen wird ein Fünftel als Vollzeitbetrieb geführt, und je 40 Prozent als Teilzeit - bzw. Zuerwerbs – oder häufig als reiner Subsistenzbetrieb bewirtschaftet. Mit einem Durchschnittseinkommen der Vollzeitlandwirte, das bereits jetzt um 20 Prozent unter dem polnischen Nettoeinkommen liegt, werden vom Landwirtschaftsministerium langfristig 1,3 Millionen Höfen keine Zukunftschancen eingeräumt.

Die in der unterbeschäftigten Landwirtschaft versteckte Arbeitslosigkeit betrifft somit zwei Millionen Menschen. Angesichts der Tatsache, daß die Zahl der Arbeitskräfte demographisch bedingt in der nächsten Dekade um 1,2 Millionen junge Arbeitnehmer zunehmen wird, dürfte trotz Freisetzungen auf den größeren Höfen durch vermehrte Mechanisierung die Zahl der Bauern eher zu- als abnehmen. Der Strukturwandel wird auch durch die in 40 Jahren kommunistischer Mißwirtschaft bestätigte individualistische Wertehaltung der polnischen Bauern gebremst: Wer so lange der Kollektivierung widerstanden hat, läßt sich nicht leicht zur Hofaufgabe, zu Maschinenringen oder genossenschaftlicher Vermarktung überreden. Der Landbesitz überdauerte die Hyperinflation der späten 80er Jahre schadlos und half, die zahllosen Versorgungsengpässe auf dem Land durch Eigenanbau, Eigenverarbeitung und Sachaustausch zu überstehen. Deshalb gibt es kaum Landverkäufe.

Trotz einer gewissen Übermechanisierung (1,3 Millionen Traktoren und 215.000 Erntemaschinen) auf den größeren Höfen und den Genossenschaftsgütern, wird noch ein Großteil der Ernten händisch eingebracht. Zumal im Osten sind Pferde und Ochsen als Zugtiere häufig im Einsatz. Nachdem die Agrarkrise 1989/93, die die Einkommen der Bauern halbiert hatte, nur die tierische Produktion verringerte, besteht heute die Agrarproduktion zu 58 Prozent aus pflanzlichen Erzeugnissen: Früchte, Gemüse (als klassische Exportprodukte), Weizen, Roggen, Gerste, Kartoffeln (zumeist als Tierfutter oder für den Eigenbedarf) und Zuckerrüben. Die tierische Produktion war nach dem Wegfall des sowjetischen Marktes und des krisenbedingten Rückgangs der Verbrauchernachfrage nach Fleisch, Eiern und Milchprodukten, auch unter dem Einfluß erhöhter Futtermittelpreise um 22 Prozent gefallen.

Allerdings leidet die tierische Produktion unter Qualitäts- und Hygieneproblemen nicht nur im Verarbeitungsbereich, sondern schon in der bäuerlichen Erzeugung: Mit vier Milchkühen als durchschnittlicher Bestand ist die Fütterung oft ineffizient und die Haltungsbedingungen unhygienisch. Dies gilt auch für die Sammlung der Milch. Rindfleisch ist eher ein Nebenprodukt der Milchwirtschaft. Wegen des Mangels an Eiweißfutter ist das Schweinefleisch in der Regel zu fett. Die meisten Kleinbauern ziehen es vor, ihre Produktion selbst zu verbrauchen oder auf Bauernmärkten direkt zu vermarkten, da sie den privaten, genossenschaftlichen oder staatlichen Aufkäufern der landwirtschaftlichen Marktagentur ARR mit einigem Grund mißtrauen.

Polnische Bauern brauchen ihre Erzeugnisse oft selbst

Der ARR wird vorgeworfen, entgegen ihrer statutorischen Aufgabe, durch Interventionskäufe die Agrarpreise im Bauerninteresse auf relativ hohem Niveau stabil zu halten, tatsächlich eher die staatlichen Verarbeiter und das Exportsyndikat Rolimpex durch niedrige Verkaufspreise und Exportsubventionen zu unterstützen. Das Management aller dieser Institutionen, wie auch des angeschlagenen, genossenschaftlichen Bankensektors, des BGZ, der kaum die Privatbauern, sondern vielmehr die staatlichen Verarbeiter, Handelsunternehmen und konkursreifen Staatsgüter finanziert, wurden nicht zufällig und der gewendeten Bauernpartei PSL kontrolliert. Gerade bei den ineffizienten und verlustreich operierenden primärverarbeitenden Getreide- und Ölmühlen, Molkereien, Schlachthöfen (deren Mehrzahl noch aus der Zwischenkriegszeit stammt), Zuckerraffinerien und Stärkefabriken ist die Privatisierung am wenigsten fortgeschritten. Beim Zucker wurden die obsoleten Raffinerien in Holdings kartellisiert und durch hohe Schutzzölle vor der Auslandskonkurrenz vorläufig abgeschirmt.

Sozialismus förderte nur die Industriealisierung

Anfang 1999 kam es zu massiven militanten Bauernprotesten, bei denen die Grenzposten blockiert und Überlandstraßen und jede Menge EU-Fahnen verbrannt wurden. Sie forderten Importverbote für Getreide und erhöhte Subventionen für Schweinefleisch. Die Krawalle waren für Andrzej Lepper organisiert worden, einen Bankrotteur, der aus einem gewissen Eigeninteresse eine agrarpopulistische Selbstverteidigungsbewegung gegen Zins- und Schuldenzahlungen ins Lebens gerufen hatte. Nachdem die Regierung ein Aufkaufprogramm für Schweinefleisch und die Stundung von Agrarkrediten zugestanden hatte, gingen die Proteste nach dem Einlenken der regierungsnahen Bauern-Solidarnoc– nicht aber von Leppers Organisation – zurück.

Doch die Strukturprobleme bleiben. Die traditionelle Vernachlässigung des polnischen Bauerntums setzt sich seit der Zeit der Adelsrepublik, die die leibeigenen Bauern von der polnischen Nation ausschloß, bis in die Gegenwart fort. Im Staatssozialismus wurde ausschließlich die Industrialisierung, die Großstädte und bestenfalls die maroden Kolchosen "gefördert". Auch in der Wendezeit half die Regierungsbeteiligung der Bauernpartei PSL wenig. Sie entstammt der chauvinistischen Volkspartei der Zwischenkriegszeit. In der KP-Ära mutierte sie zur braven Blockflöte. 1993 bis 1997 verhalf sie den zu Sozialdemokraten gewendeten Postkommunisten zur Regierungsmehrheit. Dabei zeichneten sich die PSL-Funktionäre durch so hemmungslose Korruption und offene Postenschiebereien aus, daß sie bei den Wahlen Ende 1997 die Hälfte ihrer Stimmenanteile, über 100 ihrer Mandate und die Regierungsbeteiligung verloren. Doch auch die aktuelle Reformregierung aus Freiheitsunion und der Wahlkoalition der Solidarnoc verfügt über kein schlüssiges Konzept einer marktorientierten Agrarreform und zur Entwicklung der sozialen und physischen Infrastruktur des in jeder Hinsicht unterentwickelten ländlichen Raumes.

Die andauernde Kapitalknappheit des Agrarsektors führte auch zu einer Krise der Zulieferindustrien. Die Umsätze der Düngemittel-, Agrarchemie- und Landmaschinenhersteller gingen zurück. Das auf eine Jahreskapazität von 70.000 angelegte staatliche Traktorenwerk Ursus bei Warschau mit 12.000 Beschäftigten verkauft nur noch 10.000 Traktoren und entging 1996 nach einem Vergleich mit 90%igem Schuldenerlaß nur knapp dem Konkurs. Die Kapitalarmut der polnischen Bauern behindert auch die Arbeit der Landwirtschaftlichen Eigentumsagentur, die ab 1992 die meisten Eigentumstitel (4,4 Mio Hektar) und Schulden der Staatsgüter übernommen hat. Das Gros des übernommenen Landes wurde bislang verpachtet, zumeist an Nachfolgegesellschaften der Kolchosen, und nur ein Bruchteil verkauft, zumal der Verkauf von Agrarland über einem Hektar an Ausländer verboten und der unter einem Hektar genehmigungspflichtig ist. Es ist neben nationalistischen Gruppen vor allem die Bauernpartei, die die Angst vor Heimatvertriebenen schürt, die ihren enteigneten Besitz zurückkaufen könnten.

Verkauf von Agarland an Ausländer ist verboten

Obwohl die Preise durchaus erschwinglich wären (der durchschnittliche Preis der Agentur betrug 1995 1.200 DM), erscheint die entfachte nationalistische Hysterie übertrieben. 1995 wurden nicht einmal 2.000 Hektar von Ausländern aller Herkunftsländer erworben, 1994 waren es 1.500 Hektar. Insgesamt haben die Beschränkungen und die fremdenfeindliche Agitation einen zweifellos abschreckenden Effekt auf auslänsische Investoren – nicht nur im Agrarsektor – die sich in anderen Reformstaaten stärker willkommen fühlen.


 
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