© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/99 02. April 1999


EU-Gipfel in Berlin: Die Entlastungen für Deutschland fielen bescheiden aus
"Eine Chance wurde vertan"
Victor V. Capé

Die Arbeitstagung des Sondergipfels des Europäisches Rates in Berlin begann mit einer Personalentscheidung, deren Schnelle und Eindeutigkeit angesicht der vorausgegangenen Probleme überraschte. Einhellig einigten sich die fünfzehn Staats- und Regierungschefs auf einen Nachfolger des nach Korruptionsvorwürfen gegen seine Kommission zurückgetretenen Jacques Santer. Romano Prodi, italienischer Wirtschaftsprofessor, der sein Land trotz aller Unkenrufe in die Währungsunion führte, soll neuer Chef der EU-Kommission in Brüssel werden. Diese schnelle Einigung auf einen Mann, dessen Fachkompetenz Jacques Chirac ebenso zu schätzen weiß wie Tony Blair – und für den Schröder sicherlich keinen geeigneten Alternativvorschlag hatte –, sollte die Konferenz dynamisieren.

Die Ergebnisse des Gipfels ließen die Bundesregierung die Tagung als ihren Erfolg erscheinen. Die EU hat mit der Verabschiedung der Agenda 2000 ihre Handlungsfähigkeit und ihren Handlungswillen dokumentiert, betonte Bundeskanzler Schröder nach der Konferenz vor dem Bundestag. Die EU erlegt sich mit der Agenda 2000 bis zum Jahr 2006 eine strengere Ausgabendisziplin auf. Das Prinzip der Haushaltsstabilität wird lediglich bei der Ausstattung der Kohäsionsfonds überschritten. Die Staatschefs verständigten sich darauf, die Reform der Milchmarktordnung um zwei Jahre zu verschieben, wobei insbesondere die Senkung der Garantiepreise für Getreide mit 15 Prozent um fünf Prozentpunkte geringer ausfallen als urspünglich geplant.

Die Bündelung der zu lösenden Probleme war die größte Herausforderung, die ein EU-Rat jemals zu bewältigen hatte, unterstrich Schröder. Er sei froh, daß die EU diese schwere Prüfung unter deutscher Präsidentschaft bestanden habe. Die Einigung sei ein Kompromiß, mit dem alle leben könnten. Vor allem hätte man sich zum Ziel gesetzt, mit dem neuen Kommissionspräsidenten Romano Prodi ein Reform-Paket zu entwickeln, das mehr Effizienz, Transparenz und Bürgernähe in die Kommission und die anderen EU-Organe bringen solle. Man habe die Einigung vor allem dadurch erreicht, daß die Bundesregierung nicht kleinkariert auf nationale Positionen gesetzt und sich hier versteift habe, sondern auch von ihren Maximalpositionen flexibel abgewichen sei, so Außenminister Joschka Fischer. Viel Applaus war auch von den Regierungsparteien und dem sonst so skeptischen Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl zu hören.

Darüber hinaus gab es jedoch starke Kritik von der Opposition. Unionfraktionschef Wolfgang Schäuble befand vor allem die Beschlüsse zur künftigen Agrarpolitik als unzureichend. Das Verhandlungsergebnis bedeute mehr Bürokratie, sinkende Einkommen für die Landwirte und eine weitere Abhängigkeit der Bauer von Beihilfen und Subventionen. Die Erhöhung der Milchquote führe zu einem steigenden Preisdruck für die Erzeuger und stehe dem Ziel des Abbaus der Überproduktion entgegegn. Mit dem Verzicht auf den Einstieg in die Co-Finanzierung der Agrarbeihilfen aus nationalen Haushalten sei eine Chance vertan worden, die gemeinsame Agrarpolitik auch hinsichtlich der EU-Osterweiterung durch den Agrarstaat Polen finanzierbar zu halten. In diesem Sinne äußerte sich auch Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber. Es werde nicht deutlich, daß die EU die künftige Osterweiterung finanziell bewältigen wolle. Der Kanzler habe insbesondere sein Versprechen nicht gehalten, die deutschen Beiträge an den EU-Haushalt spürbar zu senken. Dagegen erklärte die noch als EU-Kommissionsmitglied agierende Wulf-Mathies, daß der deutsche Nettobeitrag in absehbarer Zeit deutlich sinken werde. "Deutschland ist der Gewinner der Strukturpolitik der EU", erkläre sie gegenüber der Welt. In den kommenden Jahren würden aus den EU-Strukturmitteln rund vier Milliarden Mark mehr nach Deutschland fließen als bisher. Diese Rückflüsse aus den Strukturfonds würden auch die deutsche Nettozahlerposition verbessern. "Am Ende der Periode geht der Nettobeitrag eindeutig nach unten", betonte Wulf-Mathies. Weil auf diese Weise sowohl die alten als auch die neuen Bundesländer von den Strukturhilfen profitierten, habe kein Ministerpräsident wirklich Grund zur Klage. Dagegen sagte Stoiber dem Nachrichtenmagazin Focus, Berechnungen der bayrischen Staatskanzlei hätten ergeben, daß die jährlichen Bruttobeiträge von derzeit 44 Milliarden auf 58 Milliarden im Jahr 2006 steigen würden. Auch der Bund der Steuerzahler (BdSt) sieht keine spürbare Entlastung für die Deutschen. "Eine große Chance ist vertan worden, grundlegende Verbesserungen herbeizuführen", klagte BdSt-Präsident Karl Heinz Däke in der Saarbrücker Zeitung.

Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses im EU-Parlament, Detlev Samland, sieht Deutschland nach dem EU-Gipfel in Berlin jedoch deutlich entlastet. Der Politiker schätzt die Einsparungen und Nettoentlastungen bei den Beitragszahlungen auf 150 Millionen Mark jährlich ein. Es sei zwar in Berlin nicht gelungen, den Zug umzudrehen, die Rolle Deutschlands habe sich aber deutlich geändert. Früher hätte Deutschland all jene mit Schecks bezahlt, die nicht zufrieden gestellt werden konnten. Dies hätte sich nun verändert, sagte Samland.

Ein zentraler Punkt der Reform ist jedoch die von Wulf-Mathies zu verantwortende Politik der Struktur- und Kohäsionsfonds. Ziel ist es, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Regionen zu verbessern und eine ähnliche ökonomische Entwicklung herbeizuführen. Die Strukturhilfe soll künftig stärker konzentriert werden. Die Gesamtaufwendungen belaufen sich für die Finanzperiode 2000 bis 2006 auf zusammen 213 Milliarden Euro, wovon 195 Milliarden für die Strukturfonds verwendet werden. Davon sind wiederum 135,9 Milliarden Euro für Regionen mit der Bezeichnung "Ziel-1-Gebiet" vorgesehen. Dies sind besonders strukturschwache Gegenden, deren Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf weniger als 75 Prozent des Gemeinschaftsdurchschnitts beträgt, sowie Regionen mit extremer Randlage, wie die französischen Übersee-Departements, die Azoren, Madeira und die Kanaren.

"Ziel 2" dient der Unterstützung der wirtschaftlichen und sozialen Umstellung von Gebieten mit strukturellen Schwierigkeiten, in denen die Sektoren Industrie und Dienstleistungen einen sozioökonomichen Wandel durchlaufen, sowie ländliche Gebiete mit rückläufiger Entwicklung, Stadtgebiete mit Problemen oder Regionen, die abhängig sind von Fischerei. Für die "Ziel-2-Gebiete" werden 22,5 Milliarden Euro veranschlagt.

Im Bereich der Agrarpolitik sind im wesentlichen die Elemente enthalten, die von der deutschen Ratspräsidentschaft vorgeschlagen wurden. Hierbei wird die Anpassung an die finanziellen Möglichkeiten durch die EU-Osterweiterung fortgeschrieben. Der Gesamtrahmen der Agrarausgaben im Haushalt 2000/2006 soll 40,5 Milliarden Euro nicht überschreiten. Hierzu kommen weitere 14 Milliarden Euro für die Entwicklung des ländlichen Raumes und Maßnahmen für den Tier- und Pflanzenschutz.

Die Komplexität der einzelnen Regelungen für die Agrar- und Strukturfonds verdeutlicht die Schwierigkeit, die bei den Verhandlungen zutage trat. Diese sollen künftig durch Effektivierungsreformen verbessert werden. Dabei ist vor allem der designierte Präsident der EU-Kommission, Romano Prodi, gefordert, der sich mit den Regierungs- und Staatschefs am 14. April zu ersten Konsultationen treffen wird. Auf der Tagesordnung steht dabei auch die Verkleinerung der Zahl der Kommissionsmitglieder. Auch die Direktwahl des Präsidenten der EU-Kommission oder eines europäischen Präsidenten durch das Parlament oder die Bürger wird in diesem Zusammenhang diskutiert werden.


 
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