© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/99 02. April 1999


Vor 80 Jahren: Auflistung der Kriegsrechtsverletzungen in Paris
Kein Pardon für Terror
Alfred Schickel

Was schon im sogenannten "Golfkrieg" auffiel, wiederholt sich in der Berichterstattung über die militärischen Schläge der NATO im Kosovo-Konflikt: als angegriffen und getroffen werden jeweils nur militärische Ziele gemeldet – und die Gegenseite führt mit derselben Regelmäßigkeit Bilder von getöteten Zivilisten und zerstörten Wohnanlagen vor.

Der Hintergrund für die Widersprüchlichkeit liegt nicht allein in der ausgelösten Feindschaft, sondern auch im beflissenen Bemühen um Rechtfertigung bzw. öffentliche Anklage. Dabei spielt neben der Beeinflussung der öffentlichen Meinung ein Dokument eine wesentliche Rolle, das just in diesen Tagen 80 Jahre alt wird. Es wurde von einer "Unterkommission" der Pariser Friedenskonferenz 1919 erarbeitet und listet die zur Rechenschaft zu ziehenden Kriegsrechtsverletzungen in einzelnen Punkten auf.

Mit Blick auf die erstmals als Waffe in einem Krieg eingesetzten Flugzeuge und ihre Zerstörungsmöglichkeiten wurden zu strafwürdigen Verbrechen (‘Faits criminels’) erklärt: "Luftbombardierung ohne Unterschied von unverteidigten Städten und Dörfern" (‘Bombardement aerien sans distinction des villes et villages sans defense’), "mutwilliger Beschuß aus der Luft von Krankenhäusern" (‘Bombardements aeriens volontaires des hopitaux’) und das "grundlose Zerstören von Wohngebäuden, geschichtlichen Denkmälern und baulichen Einrichtungen, die der Religionsausübung, der Nächstenhilfe und dem Unterricht dienen" (‘Déstruction sans raison d’édifices consacrés aux cultes, à la charité et la instruction’).

Zu den Verfassern dieser Verbotsliste gehörten der Brite W. F. Massey als Präsident, der amerikanische Außenminister Robert Lansing, der Franzose A. Tardieu, der Italiener Ricci Busatti und der Serbe Yovanowitsch – fast komplett die Kontrahenten im Kosovo-Konflikt.

Daß kein Deutscher mitwirkte, erklärt sich aus der bekannten Tatsache, daß Deutschland zur Pariser Friedenskonferenz 1919 nicht zugelassen worden war und die Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges unter sich den "Friedensvertrag" ausmachten. Abgestellt waren die von der "Unterkommission" angeführten Kriegsrechtsverletzungen (‘Violations des Lois de la Guerre’) allerdings auf die Deutschen und sollten dem geplanten Sieger-Tribunal als Anklagepunkte gegen Ex-Kaiser Wilhelm und seine militärischen Gehilfen dienen. Nur kam es zu diesem Prozeß nicht, weil sich der "Hauptangeklagte" (Wilhelm II.) durch seinen Übertritt nach Holland dem Zugriff der Alliierten entzogen hatte und die Deutsche Reichsregierung die anderen über 900 Beschuldigten nicht auslieferte. Immerhin befanden sich darunter Männer wie Paul von Hindenburg und Kronprinz Rupprecht von Bayern als preußischer Generalfeldmarschall; aber auch namentlich erwähnte deutsche Piloten sollten vor das Siegergericht gestellt und abgeurteilt werden. Winston Churchill, damals britischer Luftwaffenminister, überredete schließlich die Alliierten, die Anklage gegen die Piloten fallenzulassen, weil er erklärtermaßen fürchtete, keine Flugzeugführer mehr für die Royal Air Force gewinnen zu können, wenn diese "später jederzeit als Kriegsrechtsverletzer vor Gericht gestellt werden" könnten. Die deutsche Seite hatte im übrigen damit gedroht, ihrerseits gegen britische Piloten "in Absentia" Gericht zu sitzen, falls die Alliierten an ihrem Prozeßvorhaben festhalten sollten. So wurde schließlich von dem ganzen Strafgerichtsunternehmen Abstand genommen und ein "erstes Nürnberg" ad acta gelegt. Der als "Kriegsverbrecher" vorgesehene Paul von Hindenburg wurde 1925 deutscher Reichspräsident, und die königliche britische Luftwaffe hatte nicht unter Nachwuchsmangel zu leiden. Auch Hermann Göring, selber Pilot im Ersten Weltkrieg, hatte keine Probleme, genügend Bewerber für die neue deutsche Luftwaffe zu finden – obwohl der Aufbau einer Luftstreitmacht nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags für Deutschland ausdrücklich verboten war. Genauso wie sie 1919 die Weigerung der Deutschen, ihre Piloten auszuliefern, hinnahmen, fanden sich die Briten 1935 mit der neuen deutschen Luftwaffe ab, bis sie deren Schlagkraft 1940 buchstäblich am eigenen Leib verspüren mußten. Die "Luftschlacht um England" ging gleichwohl für Deutschland verloren und fand ab 1942 auf alliierter Seite furchtbare Fortsetzung. Die ausgebrannten Stadtviertel von Würzburg, Köln, Freudenstadt oder Hamburg blieben als stumme Zeugen ebenso zurück wie die Ruine der Dresdner Frauenkirche und die Trümmer des Klosters Monte Cassino. Sie dienten nach dem Krieg nicht als juristische Beweise gegen die Piloten, sondern waren schon vorher von der obersten Kriegsherren als Belege ihrer Bombardierungserfolge vorgewiesen worden, wie ein "Memorandum for Marshal Stalin" vom 8. Februar 1945 dokumentiert. Pius’ XII. Bitte vom 24. November 1940: "Mögen die Wirbelstürme, die im Tageslicht oder im Nachtdunkel Terror, Feuer und Zerstörung ausstreuen, aufhören!" blieb gleichermaßen ungehört wie sein Protest vom 21. Juli 1943 gegen "Angriffe auf die hilflose und unschuldige Zivilbevölkerung" – zumindest bei den Stäben und in den Operationsstuben. Wie es um die Gewissensbelastung der einzelnen Piloten stand, wurde in der Regel erst später bekannt.

Vor einigen Jahren, als Beteiligte am Angriff auf Dresden ihre Scham- und Reuegefühle offenbarten und bekannten, wie sie "the morning after the night of civilian slaughter" voller "sense of shame and guilt" empfanden.

Da halfen ihnen Churchills wiederholte Aufrufe "An die Zivilbevölkerung der deutschen Industriegebiete", in denen er "alle deutschen Städte, in denen sich die Rüstungsfabriken der deutschen Kriegsmaschine befinden, öffentlich zum Kriegsgebiet" erklärte und die deutsche Zivilbevölkerung aufforderte, "die Städte zu verlassen", auch nur wenig, waren sie doch unschwer als bloße Selbstentlastungsversuche zu durchschauen. Sie waren allenfalls geeignet, aufkommenden Bedenken im eigenen Land zu begegnen und laut gewordene Kritiker zu entkräften. Freilich ohne überzeugenden Erfolg. Kein Geringerer als der damalige Erzbischof von Mecheln und Primas von Belgien, Kardinal von Roey, hielt dem britischen Kriegspremier in einem Hirtenbrief vom 21. Mai 1944 die Frage entgegen: "Wo hört denn die Gefahrenzone auf, wenn Bomben auf Wohnungen und mehrere Kilometer vom Ziel entfernt abgeworfen werden?" Als "unmittelbarer Zeuge der Bombardierungen und der Verwüstungen" nannte er Städte wie Mecheln und Löwen, die "bis zur Hälfte zerstört" seien, sowie Brüssel, Lüttich, Gent und Charleroi, wo von "ganzen Häuservierteln nur noch Trümmerhaufen" stünden.

Schilderungen, die Roeys bischöfliche Mitbrüder in den USA beunruhigten und zu Interventionen bei Präsident Roosevelt veranlaßten. Als Wortführer gegen den praktizierten Luftkrieg trat besonders der seinerzeitige Erzbischof von Detroit, Edward Mooney, hervor, welchem Roosevelt in einem persönlichen Brief vom 9. März 1944 versichert, "nur diejenigen Objekte bombardieren" zu lassen, "welche dem Feind von Nutzen sein können, und, soweit menschenmöglich, alle historischen Gebäude und Heiligtümer zu schonen" (‘to bomb only those objectives that are of value to the enemy, and to spare, as far as humanly possible, all historic buildings and shrines’). Formulierungen, wie aus der "Verbotsliste" von 1919 genommen, und Zusicherungen, wie sie fast wörtlich heute auch aus dem Weißen Haus kommen.

Offensichtlich sind die kriegsrechtlichen Festlegungen, die vor 80 Jahren in Paris-Versailles getroffen worden sind, in den Staatskanzleien dieser Welt noch gegenwärtig. Ihre Beachtung verbindet sich mit der Hoffnung, daß den Zeitgenossen eine Wiederholung der verheerenden Feuerstürme der vierziger Jahre erspart bleibt.


 
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