© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/99 09. April 1999


Bündnis 90/Die Grünen: Nato-Angriffe stellen die Partei vor eine Zerreißprobe
Pazifisten leisten Widerstand
Thorsten Thaler

Die Stimmung im Saal ist emotional aufgeladen, bei vielen der anwesenden rund 150 Parteimitglieder und Funktionäre der Berliner Grünen liegen die Nerven blank. Als die Bundestagsabgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig die Nato-Angriffe auf Serbien verteidigt und dabei den Satz sagt: "Wir ringen um eine humane Politik", brüllt ihr ein wütender Teilnehmer der Veranstaltung lautstark entgegen: "Doch nicht mit Bomben."

Zwei Wochen nach dem Beginn der Nato-Luftangriffe auf Jugoslawien brodelt es bei den Grünen an allen Ecken und Enden. "Die Bandbreite der Reaktionen reicht von Resignation und Hilflosigkeit über Empörung über das Ja der Grünen zum Nato-Einsatz bis hin zur aggressiven Beschimpfung", heißt es in einem Brief der bayerischen Landesvorsitzenden Margarete Bause und Jerzy Montag an die Kreisverbände der Grünen im Freistaat. In Hamburg sieht der Bürgerschaftsabgeordnete der Grün-Alternativen Liste (GAL), Norbert Hackbusch, seine Partei vor einer "Zerreißprobe" stehen. Der Einsatz der Nato stürze die Grünen "in ihren friedenspolitischen Grundsätzen in ein Dilemma", erklärten die beiden niedersächsischen Landessprecher Renée Krebs und Hans-Albert Lennartz. Ein Dilemma, das nach Auffassung der Bonner Parteiführung darin liegt, "die Menschenrechte durch ein Vorgehen zu verteidigen, das einen unbezweifelbaren Verstoß gegen das bisherige Völkerrecht einschließt", wie der Bundesvorstand der Grünen Ende März feststellte.

Der Riß geht quer durch alle Landesverbände

"Erschüttert stehen wir Grünen vor einer Situation, die zu verhindern stets zu den obersten Zielen unserer Politik gehörte", umreißt Ludger Volmer, Staatsminister im Auswärtigen Amt und 1979 einer der Mitbegründer der Grünen, den Konflikt in seiner Partei. "Wir befinden uns nicht mehr in der Welt unserer programmatischen Visionen, unserer alternativen Entwürfe, sondern in einer Realität, die nicht einfach nach unseren Wünschen umzudeuten ist", hat der frühere Sprecher des Bundesvorstandes erkannt. Als Regierungspartei seien die Grünen gezwungen, ihre politischen Positionen "im komplexen Geflecht" der internationalen Beziehungen praktisch umzusetzen. Hierbei habe es die Partei mit vielfältigen widerstrei-tenden Interessen zu tun. Hinzu komme die rasche Erfahrung, "daß es eine eigenständige deutsche Außenpolitik nicht gibt", so Volmer. Die Bundesrepublik handle "fast ausschließlich" als Mitglied eines Bündnisses oder einer internationalen Organisation. Das entspreche "unserem eigenen programmatischen Willen nach ’Selbsteinbindung‘ und ’Selbstbeschränkung‘", erklärte Volmer, verbaue aber andererseits den Weg zu einer rein grünen Politik.

"Als Teil der Bundesregierung und Koalitionsfraktion wurden wir vor eine Entscheidung gestellt, die an unseren Grundüberzeugungen rührt und die entscheidenden Motive betrifft, die uns überhaupt zur Politik gebracht haben. Viele fragen sich nun, welchen Sinn grüne Politik macht, wenn sie eine Beteiligung an einem militärischen Angriff – zumal einem völkerrechtlich umstrittenen – nicht nur nicht verhindern kann, sondern ihn sogar toleriert und aktiv mitträgt", formulierte Volmer bereits zwei Tage nach dem Beginn der Nato-Angriffe.

Seitdem hat sich die Krise bei den Grünen weiter zugespitzt. Der Riß geht quer durch alle Landesverbände. Allein in Bayern und Berlin haben bislang mehr als zwei Dutzend Mitglieder aus Protest gegen die Bombenangriffe der Nato ihren Parteiaustritt erklärt, darunter das bayerische Gründungsmitglied Dieter Burgmann und der Beisitzer im Berliner Landesvorstand, Tilman Heller. "Die rot-grüne Bundesregierung führt – im Widerspruch zum Versprechen von außenpolitischer Kontinuität – den ersten Angriffskrieg der Bundesrepublik Deutschland. (…) Die Grünen haben sich von ihren früheren und meinen nach wie vor vorhandenen Positionen so stark entfernt, daß ich in der Partei keinen Handlungsspielraum mehr sehe", heißt es in Hellers Austrittsschreiben exemplarisch für andere, die den Grünen den Rücken gekehrt haben.

Doch auch der innerparteiliche Widerstand wächst. Eine von dem Hamburger GAL-Mitglied Uli Cremer angestoßene "Anti-Kriegs-Initiative" hat bundesweit mehr als 500 Unterschriften für einen Appell Grüner Parteimitglieder gesammelt. Darin werden die Regierungsmitglieder und Bundestagsabgeordneten der Grünen u.a. aufgefordert, "ihre Unterstützung der abenteuerlichen Nato-Politik zu beenden". Mit ihrem Appell wollen die Unterzeichner deutlich machen, daß der Kurs der rot-grünen Bundesregierung "von einem relevanten Teil der Grünen Partei nicht mitgetragen wird". Zu den prominenten Unterstützern der Initiative gehören die Europaparlamentarier Hiltrud Breyer (Saarland), Elisabeth Schroedter (Brandenburg), Wilfried Telkämper (Baden-Württemberg) und Frieder Otto Wolf (Berlin) sowie die Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele (Berlin), Christian Simmert (Nordrhein-Westfalen) und Sylvia Voß (Brandenburg).

Parteitag soll Gefahreiner Spaltung abwenden

Vor allem die Flüchtlingsströme der von den Serben gewaltsam vertriebenen Kosovo-Albaner lassen bei einer wachsenden Zahl von Grünen-Politikern den Ruf nach einem sofortigen Ende der Nato-Luftangriffe immer lauter werden. Die Bombardierungen hätten das Ziel der "Friedenserzwingung" nicht erreicht, die "humanitäre Katastrophe" im Kosovo habe sich durch das Eingreifen der Nato nicht mildern lassen, erklärte die Landesvorstandssprecherin in Nordrhein-Westfalen, Barbara Steffens. Im Gegenteil, so Steffens, "die Situation der Betroffenen hat sich verschärft". Die Vertreibung und Ermordung der Kosovo-Albaner sei keine neue Entwicklung, sondern werde bereits seit Jahren vorbereitet und umgesetzt, "wenn auch nicht im gegenwärtigen Ausmaß", räumten die bayerischen Landesvorsitzenden Margarete Bause und Jerzy Montag in einer gemeinsam mit drei Vorstandsmitgliedern der Grünen-Landtagsfraktion verfaßten Erklärung ein.

Eine Mitschuld der Nato an der Eskalation der Gewalt im Kosovo hat auch der Bundesvorstand der Grünen festgestellt. "Seit dem Beginn der Nato-Intervention in Jugoslawien hat sich nach unserer Beurteilung die Lage nicht zum Positiven, sondern zum Negativen verändert." Mord und Vertreibung seien in den letzten Tagen "massiv gesteigert worden", erklärte die Parteiführung. Die Zahl der Flüchtlinge steige unablässig, die Nato-Luftangriffe hätten dies bisher nicht verhindern können.

Auf Drängen des pazifistischen Flügels der Partei will der Bundesvorstand jetzt für Mitte Mai einen Sonderparteitag einberufen, um die Gefahr einer drohenden Spaltung abzuwenden. Nach Angaben des Geschäftsführers der Grünen, Reinhard Bütikofer, soll die Delegiertenkonferenz voraussichtlich am Himmelfahrtstag stattfinden. Bis dahin, so hoffen die Strategen vom Realo-Flügel, werden sich die Gemüter der Einsatzgegner beruhigt haben.

Vom Ausgang des Sonderparteitages hängt für die Grünen viel ab. Auf dem Spiel steht nicht nur ihre Regierungsbeteiligung in Bonn, sondern womöglich auch ihr Fortbestand als einflußreiche Größe in der deutschen Parteienlandschaft. Setzen sich die Befürworter des Nato-Einsatzes durch, droht den Grünen eine massive Abwanderung pazifistisch gesinnter Parteimitglieder in Richtung PDS. Eine personelle Blutzufuhr käme der in Westdeutschland darbenden PDS sehr gelegen. "Der Krieg ist zwar traurig", erklärte ihr Chef-Vordenker André Brie, "aber doch wohl eine Chance für die PDS." erer alternativen Entwürfe,


 
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