© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/99 09. April 1999


Architektur: Hans Wilderotters "Alltag der Macht" und Helmut Engels "Schauplatz Staatsmitte"
Suche nach der verlorenen Zeit
Martina Grundmann

Berlin ist eine Hauptstadt ohne repräsentative politische Mitte. Der kürzlich stattgefundene Gipfel der EU-Staaten tagte im äußerlich banalen Hotel "Interconti", das Pressezentrum befand sich in einem Allerweltsneubau an der Gedächtniskirche, und die Pressekonferenzen fanden im Kino "Zoopalast" statt. So richtig Staat ließ sich damit nicht machen. Die ostentative Bescheidenheit, respektive Armseligkeit in Fragen politischer Repräsentanz, die Deutschland in Abkehr von der Gigantomanie des Dritten Reiches an den Tag legte, ist vor dem Hintergrund seiner gefestigten Nachkriegsdemokratie und des modernen Europa nicht mehr ohne weiteres plausibel.

Das Manko an ministrablen Gebäuden, das auch nach Fertigstellung der Parlaments- und Regierungsbauten längst nicht behoben sein wird, ist eine Folge der Kriegszerstörungen und bestimmter Nachkriegsentwicklungen in Ost und West. Gegenwärtige und künftige Bauherren werden nur dann über den Tag hinaus bestehen können, wenn sie "auch das Abwesende ernst (....) nehmen", meint Christoph Stölzl, Direktor des Deutschen Historischen Museums. Zu genau diesem Zweck stellt der jovis-Verlag zwei Hauptschauplätze der jüngeren deutschen Geschichte in Berlin in Buchform vor.

Was den Engländern die Downing Street und den Franzosen der Quai d’Orsay ist, das war den Deutschen einst die Berliner Wilhelmstraße. Im Zweiten Weltkrieg versank sie in Trümmern; die DDR bestückte sie in den achtziger Jahren mit öden Plattenbauten. Hans Wilderotter, Professor für Museologie in Berlin und bekannter Ausstellungsmacher (er war zuständig für die großen Expositionen "Wilhelm II. im Exil" und "Walther Rathenau" im Deutschen Historischen Museum in Berlin), unternimmt in seinem fesselnd geschriebenen, reich bebilderten Buch die Rekonstruktion dieses einstigen Machtzentrums des Deutschen Reiches und damit gleichsam eine Suche nach der verlorenen Zeit. Er analysiert das Zusammenspiel von Architektur, politischer Symbolik, Verfassungsfragen und täglicher Regierungspraxis – den Alltag der Macht eben. In den Stadtpalais nahmen seit Anfang des 19. Jahrhunderts preußische Ministerien ihr Quartier. Nach der Reichgründung 1871 wurden hier auch die neuen Reichsämter untergebracht. Das preußische Staatsministerium, seit 1848 hier ansässig, mußte dem Reichskanzleramt weichen, kehrte aber um die Jahrhundertwende in einen Neubau zurück. Die Westseite der Straße war schließlich die Reichs-, die Ostseite die preußische Seite. Nach dem Sturz der Monarchie ergab sich daraus auch ein politischer Dualismus, denn während das Reich von einer Regierungskrise in die nächste taumelte und zunehmend antidemokratische Kräfte an Macht gewannen, herrschten in Preußen unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun relativ stabile Verhältnisse. 1919 erhielt auch der Reichspräsident seinen Sitz in der Wilhelmstraße, im ehemaligen Königlichen Hausministerium der Hohenzollern.

Bismarcks Zeitgenossen atmeten hier die Aura der Macht und mokierten sich gleichzeitig über den brachialen Stil der Interieurs, der ziemlich genau dem Umgang des Kanzlers mit seinen innenpolitischen Gegnern entsprach. Der Bismarck-Mythos blieb noch jahrzehntelang Bezugspunkt für das Selbstverständnis dieser Meile der Macht. Auch die Weimarer Republik begnügte sich mit dem Rückgriff auf das Design des Kaiserreichs und stattete ihre Behörden mit Mobiliar der kaiserlichen Yacht "Hohenzollern" und aus Preußenschlössern aus, mit dem Ergebnis, daß die Räume der Regierungsbauten mitunter maroden Rumpelkammern glichen – was für den Zustand der Republik symptomatisch war. Umgekehrt bekräftigte Hitler seinen Machtanspruch mit der 1939 fertiggestellten Neuen Reichskanzlei, in der allein das Arbeitszimmer 400 Quadratmeter einnahm.

In einer glänzenden Sozialanalyse legt der Autor dar, daß die Beamten der Wilhelmstraße bis in die dreißiger Jahre hinein vorzugsweise adlig, preußisch, protestantisch und fast immer stockkonservativ waren. Sie arbeiteten hocheffizient, doch ein demokratisches Ethos ging ihnen oft ab. Dabei nahm ihr politischer Einfluß in der Weimarer Republik ständig zu, weil sie wegen der permanenten politischen Krisen das stabilste Element des Regierungsapparates waren. Nach 1933 wurde ein hoher Beamter, der ehemalige Deutschnationale Hans Heinrich Lammers, als Staatssekretär und später "Chef" in der Reichskanzlei sogar Hitlers unentbehrliche rechte Hand im politischen Alltag und sicherte dessen unstetes, dandyhaftes Regime ab. Andererseits gab es zahlreiche Beispiele konservativen Widerstands.

Die Wilhelmstraße bildete das politische Nervenzentrum des Reiches, das Schloß und der umliegende Schloßbezirk waren die repräsentative Staatsmitte. Diese wird im Buch des Berliner Landeskonservators Helmut Engel bild- und materialreich vorgestellt. Daß es heute im Pro und Kontra um den Wiederaufbau des 1950 gesprengten Hohenzollernschlosses soviel aufgeregte Emotionen gibt, rührt auch daher, daß es im 19. und früheren 20. Jahrhundert nicht gelungen war, die staatliche Mitte in ein Zentrum des gesellschaftlichen Austauschs zu transformieren. Dafür stehen die gescheiterten Pläne, hier die beiden Kammern des Preußischen Landtags ihren Sitz nehmen lassen. Zwar zog die Berliner Universität in ein ehemaliges Prinzenschloß, wurden Bibliotheken und Museen auf- und ausgebaut, doch waren sie stets dem anachronistischen Machtanspruch des Kaisers untergeordnet. Der Schloßbezirk blieb die Hoheitsmitte des Monarchen und des Militärs, anstatt die Wirklichkeit und die Erfordernisse eines modernen Industrie- und Verfassungsstaates widerzuspiegeln und zu bündeln. Als Wilhelm II. bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf den Balkon trat, jubelten ihm die Untertanen noch einmal zu, doch so wie der Kaiser danach an die Peripherie der politischen und militärischen Entscheidungsprozesse geriet, verwaiste auch der Schloßbezirk. In der Weimarer Republik verlagerte sich die Hoheitsmitte zum Reichstag. Während des Dritten Reiches sperrte sich der mächtige Bau immerhin gegen eine Vereinnahmung durch die Theatereffekte der Nationalsozialisten, die es unbeachtet ließen. Das mit dem Abriß entstandene städtebauliche Desaster wurde auch von der SED-Führung bald empfunden, die an der Stelle 1976 den "Palast der Republik" eröffnete. Es ist interessant, daß er kein Ort der Indoktrination der DDR-Bürger wurde, sondern daß diese sich den verhältnismäßig luxuriös ausgestatteten "Palast" als Freiraum außerhalb des grauen DDR-Alltags aneigneten.

Man kann Engels‘ Buch im Ergebnis als vorsichtiges Plädoyer für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses lesen. Damit es aber mehr wird als ein zufälliges, sperriges Artefakt, muß zuvor seine gesellschaftliche Funktion geklärt werden. Aus dieser ergibt sich dann die architektonische Form.

An eine Rekonstruktion der Wilhelmstraße ist nicht zu denken. Sie wird immerhin das Bundesfinanzministerium beherbergen, im Bau des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums von Hermann Göring. Ein Wiederaufleben ihres vordemokratischen Genius loci durch den Umzug der Bundesregierung ist nicht zu erwarten. Der gläserne Neubau des Bundeskanzleramtes steht im Spreebogen, sein politischer und symbolischer Bezugspunkt ist nicht Bismarck, sondern nebenan der Reichstag, Sitz des gewählten Parlaments. Martina Grundmann

 

Hans Wilderotter: Alltag der Macht. Berlin Wilhelmstraße, jovis Verlag, Berlin 1998, 352 S., über 200 Abb., 49,80 Mark

Helmut Engel: Schauplatz Staatsmitte. Schloß und Schloßbezirk in Berlin, jovis Verlag, Berlin 1998, 176 Seiten, 78 Mark


 
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