© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/99 23. April 1999


Krieg auf dem Balkan: Peter Scholl-Latour über die Risiken des Nato-Angriffs auf Serbien und die politischen Konsequenzen für Deutschland
Der amerikanische Oberbefehl ist eine Tragödie für Europa
Dieter Stein

Herr Scholl-Latour, Sie sind einer derjenigen, die vor den Konsequenzen des Krieges um das Kosovo von Anfang an gewarnt haben. Die Nato-Luftangriffe deuten bisher nicht auf ein schnelles und erfolgreiches Ende des Krieges hin. Muß die Nato jetzt einen Bodenkrieg führen?

Scholl-Latour: Ich kann mir das schlecht vorstellen. Die Konzentration solcher Truppen nimmt mehrere Monate in Anspruch. Für einen regelrechten Krieg gegen Serbien werden 200.000 Mann benötigt. Dafür sind bis heute die Voraussetzungen gar nicht geschaffen. Es ist jedoch festzustellen, daß die amerikanische Öffentlichkeit sehr kriegsbegeistert ist. Auch die deutsche Öffentlichkeit steht hinter dem Vorgehen der Nato. Dennoch ist es nicht wahrscheinlich, daß dies so bleibt, wenn es darum geht, eigene Soldaten in einem gefährlichen und heimtückischen Partisanenkrieg zu opfern.

Ist der Nato-Krieg gegen Serbien ein gutgemeinter Fehlschlag?

Scholl-Latour: Es ist durchaus legitim, daß man versucht, das Vorgehen der Serben zu beenden, die Vertreibung rückgängig zu machen und eventuell Milosevic zu stürzen. Man muß dazu allerdings auch die richtigen Methoden anwenden und nicht solch einen blödsinnigen Luftkrieg – man hat ja die Erfahrung aus Vietnam und aus anderen Ländern, wie dem Irak.

Der Luftkrieg war kontraproduktiv. Die Ausweisungen aus dem Kosovo bewegten sich zuvor auf einem weit niedrigeren Niveau. Jetzt hat man nun die Massenvertreibungen. Andererseits hat der Krieg für Milosevic, der sehr umstritten war bei seinen eigenen Leuten und in der Bevölkerung, jetzt den Effekt der Solidarisierung der Opposition unter Vuk Drascovic zum Beispiel. Es ist das Gegenteil von dem erreicht worden, was angestrebt war. Darüber hinaus versteht die momentane rot-grüne Regierung nichts vom Kriegshandwerk, wie man es auch von Pazifisten gar nicht anders erwarten kann.

Die Vertreibung der Kosovaren aus ihrem Gebiet hat ja nicht nur das Ziel, die Region von Albanern zu säubern, sondern geschieht im Hinblick auf eine militärische Offensive, mit der die Serben natürlich rechnen. Die albanischen Partisanen der UÇK, die in einem Gebiet kämpfen, das zu 90 Prozent von Albanern bewohnt wird, würden sich, wie Mao Tse Tung mal gesagt hat, wie der Fisch im Wasser bewegen. Die UÇK hätte da ein Umfeld. Die Serben sind gerade dabei, dem Fisch das Wasser abzugraben.

Waren die Komplikationen und die schwierigen Entwicklungen in diesem Krieg denn nicht vorhersehbar?

Scholl-Latour: Die Entwicklungen waren absolut absehbar, und ich weiß auch gar nicht, wie so etwas möglich ist. Ich bin mir auch gar nicht im klaren über das überproportionierte amerikanische Engagement. Die Europäer müßten sich hier wesentlich mehr berührt fühlen, weil der Balkan ja ein Bestandteil Europas ist. Daß die Amerikaner, die doch weltweit aktiv sind, gerade dem Kosovo solch eine Aufmerksamkeit gewidmet haben, verwundert sehr.

Zu welcher Erklärung sind Sie gekommen? Wer ist denn die treibende Kraft in diesem Konflikt?

Scholl-Latour: Die böswilligste Unterstellung ist natürlich, daß der amerikanische Präsident nach den Demütigungen der Lewinsky-Affäre seine Präsidentschaft mit einem militärischen Erfolg beenden möchte und sich an die Spitze der Allianz stellen wollte. Das ist bedenklich, da die Nato ja als Abwehr einer sowjetischen Offensive gedacht war und jetzt keine strategische und politische Ausrichtung mehr hatte. Man will die Bündnispartner wohl wieder in die Disziplin nehmen. Bei Frankreich wundert es mich ohnenhin – unter de Gaulle wäre so etwas nicht geschehen.

Aber auch Deutschlands Rolle ist verwunderlich. Hat denn überhaupt die deutsche Regierung und haben die deutschen Generäle an der Ausarbeitung der Pläne für diesen Feldzug teilgenommen? Aber auch wenn – sie haben ja keine eigene Kriegserfahrung, sie hätten doch zumindest heftig widersprechen müssen. Sie hätten darauf hinweisen müssen, daß dies zu einem militärischen Fehlschlag führen kann, auch wenn man politisch einverstanden war.

Man will wohl auch endlich einmal zeigen, was man gelernt hat.

Scholl-Latour: Nein. Die Truppen, die man da runtergeschickt hat nach Mazedonien und Albanien, sind ja für Bodenkämpfe nicht ausreichend gerüstet. Das sind Truppen, die die OSZE-Beobachter hätten herausholen sollen, wenn es zu einer Eskalierung des Konfliktes gekommen wäre. Diese sind vor dem Beginn der großen Konfrontation in einem Konvoi über die Grenze gefahren. Die andere Mission wäre, bei einer Einigung zwischen Serben und Albanern hier eine stabilisierende Funktion zu übernehmen. Die Truppen, die zur Zeit in der Region sind, verfügen über kein wirkliches Offensiv-Potential.

Die öffentliche Meinung in Deutschland und im übrigen Europa geht überwiegend davon aus, daß es sich bei dem Einsatz gegen Serbien darum dreht, das Ausmaß einer humanitären Katastrophe zu verhindern. Halten Sie die ständigen Vergleiche zwischen Serbien und dem Dritten Reich für angebracht?

Scholl-Latour: Was ich für absolut unerträglich halte, ist der Vegleich mit Auschwitz. Im Kosovo geschieht bestimmt sehr viel Schreckliches. Diese paramilitärischen Einheiten der Serben habe schon in Bosnien gezeigt, daß sie zu morden verstehen. Es sind zum Teil Verbrecherbanden. Doch der Vergleich mit Auschwitz ist eine Beleidigung der Opfer von Auschwitz. Es wundert mich, daß Ignatz Bubis, der sich oft zu Worte meldet, hier bei der Bagatellisierung der Verbrechen von Auschwitz schweigt. Auschwitz war ja eine technisierte und perfekt organisierte Durchführung eines Massenmordes, wobei die Opfer in verhungertem Zustand in die Gasöfen eingeliefert wurden. Wir sehen schreckliche Bilder aus dem Kosovo, aber die Vertriebenen kommen in Personenwagen oder mit Traktoren und Bussen oder in Zügen an. Die Kameras gehen zwar immer auf das Leid, auf weinende Kinder und auf schwangere Frauen. Aber die Juden hatten im Dritten Reich nicht die Möglichkeit, abgeschoben zu werden, in ein Land, wo ihnen humanitär geholfen worden wäre. Sie hätten geweint vor Glück, wenn ihnen damals eine solche Fluchtmöglichkeit offen gestanden hätte. Das zu vergleichen, ist eine Ungeheuerlichkeit.

Der Völkerrechtler Wolfgang Seiffert hat gegenüber unserer Zeitung vergangene Woche gesagt, daß die humanitären Gründe nur vorgeschoben seien. Es ginge beim Nato-Einsatz vielmehr um die Demonstration einer neuen Weltordnung, eines neuen Verständnisses des Völkerrechts und um eine gegen den russischen Einfluß in Europa gerichtete Aktion.

Scholl-Latour: Damit bin ich nur zum Teil einverstanden. Zuerst einmal muß man sagen, daß die eklatanten Verstöße gegen das Völkerrecht durch die Serben hier ein Eingreifen durchaus rechtfertigen. Das ist auch europäische Verantwortung. Ich weiß aber nicht, warum man versucht, Rußland immer mehr zurückzudrängen. Das sieht man im Kaukasus und das sieht man in Zentralasien. Dazu zähle ich allerdings nicht die Nato-Osterweiterung. Das war eine logische Konsequenz angesichts der großen Unsicherheit, die im russischen Raum weiter existiert. Es ist eine absolute Torheit, Rußland so zu brüskieren, daß bei den nächsten Wahlen wahrscheinlich eine nationalistisch gefärbte Duma herauskommt. Dann könnte auch ein Präsident gewählt werden, der dem Westen gegenüber ablehnend eingestellt ist. Ich möchte mich heute nicht zu der Art und Weise äußern, mit der Primakov in Bonn behandelt worden ist.

Kann man eigentlich damit rechnen, daß sich Rußland weiter neutral verhält, oder besteht die Gefahr, daß die Nato die Kommunisten in Rußland wieder an die Macht bombt?

Scholl-Latour: Das Wort Kommunist macht heute nicht mehr viel Sinn. In vielen Staaten, die jetzt der Nato beitreten, sind ja frühere Kommunisten an der Macht. Die ganzen GUS-Staaten Zentralasiens werden von den Führern der früheren kommunistischen Partei gelenkt. Es ist aber natürlich die Gruppe um Sjuganov, die nunmehr gestärkt wird. Es entwickelt sich daneben ein starkes russisches Nationalgefühl, das auch sehr religiös gefärbt ist. Die heilige Orthodoxie spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Führt der Krieg gegen Serbien zu einer Stärkung der Türkei in der Nato und wird der Einfluß der Islamisten in der Region nicht gestärkt?

Scholl-Latour: Da muß man sehr vorsichtig sein. Die Türkei ist sicherlich einer der Machtfaktoren in der Region und ist es in den letzten Jahrunderten ja auch immer gewesen.Es ist deutsche Politik, daß man die Russen einbeziehen muß. Um so verwunderlicher ist es, daß man die Türken nicht mit einbezieht, die bis zum Beginn dieses Jahrhunderts die eigentliche Balkanmacht gewesen sind. Die jetzige türkische Regierung, die, um es vorsichtig auszudrücken, unter sehr starkem Einfluß des Generalstabes steht, ist weiterhin kemalistisch. Sie läßt die islamistischen Tendenzen nicht in breitem Umfang zu. Sie versucht insbesondere dem Fundamentalismus eine Schranke zu setzen. Gerade die "Tugendpartei" wird von seiten des Militärs stark bekämpft. Es geht sogar soweit, daß derjenige Offizier, der in eine Moschee geht, aus dem Militär entfernt wird. Aber die Türkei wird sich gezwungenermaßen mit ihren früheren engsten Verbündeten auf dem Balkan beschäftigen müssen, und dazu zählen die Muslime in Bosnien, die ja in einer erbärmlichen Situation sind, und natürlich die Muslime des Kosovo und in Mazedonien. Da haben die alten osmanischen Bindungen eine Langzeitwirkung. Sehr viele atatürkische Familien stammen ja von dort, und es gibt eine starke Solidarität.

Wenn die türkische Regierung und die laizistisch orientierte Armee jetzt nichts unternehmen, dann könnte das pantürkische Element stark werden. Das zeigen die jüngsten Wahlen in der Türkei, bei denen die ehemaligen "grauen Wölfe" enorme Stimmengewinne erzielt haben. Das ist ein ganz klarer Hinweis, daß die jetzige Regierung, und insbesondere Ecevit, der auch zu intervenieren versteht, wie er in Zypern gezeigt hat, bei einem passiven Verhalten mit einer islamisch-nationalen Welle zu rechnen hätte. Die Türken geben nicht auf, wenn sie in einem Krieg, den sie als vaterländischen Krieg betrachten, auch Soldaten verlieren.

Ist es nach diesem Konflikt überhaupt möglich, die Türkei aus der EU herauszuhalten?

Scholl-Latour: Das ist auch eine der großen Lügen der deutschen Politik und auch der deutschen Wirtschaft. Ich hatte vor kurzem in der Türkei diesbezüglich aufschlußreiche Diskussionen. Sie können mit den Menschen dort ja ganz offen reden. Der Fehler ist folgender: Man hat den Türken vorgegaukelt, sie könnten in die Europäische Union kommen. Die Türkei ist ein Land mit 70 Millionen und in 20 Jahren wahrscheinlich 100 Millionen Einwohnern. Die Türkei ist eine Brücke nach Zentralasien, die mit ihrer Grenze bis nach Mesopotamien reicht und bis in den Kaukasus. Sie ist Erbin eines Großreiches. Der Eintritt in die Europäische Union ist verbunden mit der Niederlassungsfreiheit. Die Türken, mit denen ich spreche, sind Menschen aller Couleur. Wenn ich dann sage, daß im Falle der EU-Aufnahme etwa fünf Millionen Türken nach Deutschland zuwandern würden, lachen sie und meinen, wir müßten eigentlich mit zehn Millionen rechnen. Die deutsche Haltung ist hier eindeutig verlogen. Unklar in diesem Zusammenhang ist auch die Haltung der EU zum Beitrittsgesuch Zyperns. Die territorialen Probleme sind auf Zypern nicht gelöst, die Strukturen sind mafiös, und die Insel ist die Geheimdienstzentrale des gesamten Orients überhaupt. Das brüskiert natürlich die Türken arg.

Wie wird denn Europa nach dem Kosovo-Krieg aussehen – gestärkt oder geschwächt?

Scholl-Latour: Leider geschwächt. Wir sind zu einem Wohlfahrtsverband geworden, der auch eine gemeinsame Währung hat. Aber das macht doch keinen Bundesstaat und keinen Staatenbund aus. Wir müssen eine gemeinsame Außenpolitik finden, und wir brauchen ein eigenes Verteidigungskonzept. Es ist eine Tragödie, daß wir auch weiterhin unter dem Oberbefehl der Amerikaner stehen, und dies nicht nur in militärischer Hinsicht.

Rühren Sie da nicht an ein Tabu?

Scholl-Latour: Das muß doch mal klipp und klar ausgesprochen werden. Es ist interessant, daß dieser Krieg von einer rot-grünen Regierung getragen wird. Die CDU wäre da zurückhaltender gewesen. Volker Rühe, der einzige Mann der sich hierzu vernünftig geäußert hat, wurde ja mundtot gemacht.

Und warum sind die Europäer bisher nicht in der Lage gewesen, ihre Interessen ohne die Amerikaner geltend zu machen?

Scholl-Latour: Zu bedenken ist, daß die Europäer Teil der Nato sind und daß die Nato darauf eingerichtet war, die damalige Sowjetunion abzuschrecken. In Zeiten des Kalten Krieges hatte das auch seinen Sinn. Die Amerikaner waren als einzige in der Lage, Rußland mit ihren Atomstreitkräften abzuschrecken. Im Falle eines wirklichen Konfliktes hätte es einer militärischen und politischen Koordination bedürft. Dazu waren nur die USA in der Lage. Der einzige, der mit einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft wirklich ernst machen wollte, war Charles de Gaulle. Er war mit seinen Konzeptionen der Zeit weit vorraus. Er ist aber nicht zuletzt auch von Deutschland abgewiesen worden.

Gibt es denn heute überhaupt Ansprechpartner in Frankreich und dem übrigen Europa für eine eigenständige Sicherheitspolitik?

Scholl-Latour: Leider ist die jetzige Konzeption in Frankreich völlig unverständlich. Unter Chirac gibt es keine wirklich gaullistische Europapolitik. Frankreich hatte der deutschen Regierung vorgeschlagen, einen eigenen Spionage-Satelliten in die Umlaufbahn zu schießen. Man wäre heute nicht mehr so bedingungslos auf die Amerikaner angewiesen und wüßte selber, was am Boden im Kosovo vor sich geht. Das ist damals von der deutschen Regierung aus finanziellen Gründen abgelehnt worden. Da stand natürlich auch amerikanischer Druck dahinter.

Wie soll sich die deutsche Regierung verhalten, um den Konflikt schnell zu beenden?

Scholl-Latour: Die Gewinnchancen der Nato sind ja außerordentlich gering. Man will, so beteuert man, keinen Bodenkrieg führen. Es ist wahrscheinlich, daß die UÇK systematisch aufgebaut wird. Es gibt kaum eine andere Möglichkeit. Die UÇK wird nicht nur die Unterstützung der Amerikaner haben. Albanien wird zur strategischen Drehscheibe werden für die Nato gegenüber dem Kosovo. Dann kann Serbien auch einen Partisanenkrieg der UÇK im Kosovo auf Dauer nicht durchhalten. Dies vor allem nicht, wenn die UÇK punktuell aus der Luft durch die Nato unterstützt wird. Dann wird sich Serbien zu irgendwelchen Verhandlungen über das Kosovo bereitfinden müssen. Das kann sehr lange daueren. Parallel dazu entwickelt sich aber auch die Einflußnahme der islamisch-militanten Kräfte.

Sehen Sie auch die Gefahr der Eskalation hin bis zu einem Dritten Weltkrieg, womit Jelzin gedroht hat?

Scholl-Latour: Das sehe ich nicht. Die Russen sind ja von Natur aus auch recht vorsichtige Leute. Auch wenn da schon Freiwillige kämpfen und es zu einer romantischen Solidarisierung mit der Brudervolk der Serben in der Bevölkerung käme, ist ein unmittelbares Eingreifen in den Konflikt durch Rußland eher unwahrscheinlich. Dennoch darf man die Russen nicht als schwach einschätzen. Die Kredite, von denen man sie abhängig hält, sickern zu einem großen Teil in die Hände der Mafia. Davon hat der Staat wenig. Und die russische Föderation stellt immerhin noch ein Sechstel der Erdoberfläche dar. Das ist ein riesiges Potential, auch wenn die Armee in großenTeilen verrottet und verkommen ist. Die Atomwaffenkapazität ist jedoch auf einem sehr beachtlichen Stand. Das sind Gefahren, die dem Westen im Moment wohl gar nicht bewußt sind.


 
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